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OKTOBER 2015

editorial

Der Raub der Gegenwart

M

an spricht vom digitalen Zeitalter, in dem das Smartphone, das Tablet und auch der gute, inzwischen alte Computer das Ruder übernommen haben. Hotels und Flüge im Reisebüro buchen – nur noch für Nostalgiker. Filme im Fernsehen ansehen und sich über die Werbepausen ärgern – nur noch für die Generation 60 plus. Erlagscheine ausfüllen und zur Bank bringen – nur noch für ganz Ängstliche. Der Besuch in der Videothek – nur noch für nahe Verwandte des Pächters.

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Zahlreich sind die Vorteile, die mit der Digitalisierung einhergehen, groß die Anzahl der Branchen, die umdenken und sich anpassen müssen. Aber glauben Sie mir: Ich würde auf diese Verbesserungen inzwischen gerne verzichten, wenn man dafür nicht mehr mit dem größten Nachteil der digitalisierten Welt leben müsste. Millionen Menschen, die ständig in ihr Smartphone starren, um dort Teil eines Lebens zu sein, das mit der Realität so gar nichts zu tun hat. Smartphones rauben uns schlichtweg die Gegenwart, sie zerstören den Moment. Und wofür? Damit ich auf WhatsApp in 20 Nachrichten zum gleichen Ergebnis kommen kann, wie mit einem Telefonat in 20 Sekunden? Damit ich mit einem schnellen Anruf, einer Nachricht oder einem E-Mail mehr Verwirrung stifte, als über eine Sache nachzudenken und sie dann zu lösen? Damit ich auf drei unterschiedliche Weisen vermelden kann, dass ich fünf Minuten zu spät komme, anstatt entweder pünktlich zu sein oder einfach zu spät zu kommen?

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Wir filetieren unser Denken und trimmen uns selbst darauf, in der Sekunde zu reagieren. Die Qualität rückt dabei in den Hintergrund, Geschwindigkeit und Quantität sind die neuen Gradmesser der mobilen Kommunikation. Beantworten Sie heutzutage ein E-Mail nicht am selben Tag oder reagieren auf eine Nachricht nicht binnen Minuten, kann schon mal die Polizei an Ihrer Tür klingeln. Schließlich muss etwas ganz Schlimmes passiert sein, anders wäre der Umstand der mobilen Ignoranz kaum zu erklären. Eine schreckliche Entwicklung, weil sie vor allem zwei Dinge fördert: Sie reduziert die Fähigkeit des komplexen Denkens im Speziellen und die des überhaupt Denkens im Allgemeinen. Und sie zerstört die Kommunikationsfähigkeit von Angesicht zu Angesicht. Wer immer einen Smiley braucht, um zu erklären, ob es sich um eine ernste oder lustig gemeinte Nachricht handelt, wird real vorgetragene Ironie sehr bald nicht mehr erkennen können. Wer seine ersten Beziehungen per Änderung des Beziehungsstatus auf Facebook beendet hat, wird nur schwer lernen, wie man unangenehme Themen im direkten Gespräch meistert. Wer immer nur Stress hat, sein Smartphone-Leben im Griff zu haben, verlernt ganz zwangsläufig die Fähigkeit abzuschalten oder einfach nur den Moment zu genießen.

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Oft werden Trends von einem Gegentrend abgelöst und ich hoffe inständig, dass es der mobilen Kommunikation so ergehen wird. So zum Beispiel rauchen in den älteren Filmen stets die Helden und schönen Frauen, in den neueren Werken eigentlich nur noch Arbeitslose, Untermenschen und dem Tode Geweihte. Ähnliches erhoffe ich mir vom Smartphone-Hype und vielleicht heißt es ja in ein paar Jahren: „Sieh dir mal den Assi an, der ist ja voll auf WhatsApp – arme Sau.“

 

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