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JUNI 2020

Editorial

Über den Anfang vom Anfang

A

m 30. März verkündete unser Kanzler, dass „bald jeder von uns jemanden kennen wird, der an Corona gestorben ist“. Er sprach auch von zehntausenden Österreichern, die dem Virus zum Opfer fallen könnten. Zu diesem Zeitpunkt war diese Einschätzung vermutlich nachvollziehbar und die daraus resultierenden Maßnahmen haben sicher stark geholfen, dass Österreich heute so gut dasteht wie kaum ein anderes Land auf der Welt. Die Zahlen der Infizierten fallen seit Wochen, nur noch vereinzelt sterben Menschen mit oder gar an Corona und es fühlt sich tatsächlich so an, als ob man fürs Erste alles gut überstanden hätte.


Ich für meinen Teil kenne bis heute zum Glück keinen Corona-Toten, um ehrlich zu sein, nicht einmal einen Corona-Infizierten. Ich bin auch kein Virologe, Experte oder gar Verschwörungs­theoretiker, aber mir ist eines sonnenklar: seit Wochen gibt es Lockerungen in allen Bereichen, die Menschen haben wieder deutlich mehr Kontakt zueinander und in den meisten Freundeskreisen und Familien ist die Zeit des Abstands längst Geschichte. Trotzdem befindet sich Corona unbeeindruckt auf dem Rückzug, steht zumindest zahlenmäßig kurz vor dem Verschwinden. Wäre es dann nicht an der Zeit, eine emotionale Gegenbewegung einzuleiten? Wer erst vom Tod spricht, kann doch jetzt auch vom Leben sprechen. Diese mühsame Salami-Verzögerungstaktik hat ohnehin keinen Sinn. Ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe der anstehenden Lockerungen hält sich sowieso kein Mensch mehr an die Regeln. Warum soll ich jetzt nur zu viert im Gasthaus sitzen, wenn ab Mitte Juni wieder mehr Menschen erlaubt sind? Warum wird eine Sperrstunde nicht umgehend verlängert, sondern erst ab einem gewissen Zeitpunkt? Die Ankündigung zur Lockerung in der Zukunft ist einfach nur Schikane und belastet den Konsumenten gleichsam wie den Unternehmer.


Viel schlimmer wirkt sich die zögerliche Haltung in anderen Bereichen aus. Die Schullösung kann nur einem kinderlosen Menschen mit Kinderwunsch, der sich schon immer mal an allen Familien in Österreich rächen wollte, eingefallen sein. Zwei Tage die Woche? Echt jetzt? Es wird völlig ignoriert, dass die Betreuung der Kinder letztendlich seit 16. März mehr oder weniger ausgesetzt ist – und das mit dem Ausblick auf neun Wochen Sommerferien. Schon längst müsste man hier alles wieder auf Normalbetrieb stellen. Die paar Infizierten können den Druck, der hier auf Familien im Allgemeinen und Frauen im Speziellen ausgeübt wird, in keinster Weise rechtfertigen.


Kurzum: Lieber Herr Bundeskanzler, Sie haben das alles ganz super gemacht, wir haben Sie alle ganz furchtbar lieb und wählen Sie auch ganz verlässlich wieder. Aber jetzt lassen Sie uns bitte wieder in Ruhe unser Leben leben.


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