Wir empfehlen
JULI 2016

Editorial

Über ein notwendiges Übel

M

ein Berufsberater hat mir nach meinem letzten Editorial eindringlich von einer Karriere als Orakel abgeraten. Deshalb versuche ich mich diesmal an einem weniger komplexen Thema als der österreichischen Präsidenten­wahl.

// 

Ich bin nämlich wirklich erschrocken, wie wenig ich mich eigentlich mit dem Thema EU im Allgemeinen und „Brexit“ im Speziellen auskenne. So war es mir lange Zeit nicht möglich, eine Emotion oder gar eine Meinung zum EU-Austritt der Briten zu entwickeln. Und auch Tage danach habe ich zwar verstanden, dass das eine große Sache sein muss, bin aber noch immer hin- und hergerissen. Der Charme des Unerwarteten paarte sich hier mit plötzlicher Überraschung. Ein Gefühl, als ob Österreich ein EM-Spiel gewinnen würde oder der Kurzparkzonentarif plötzlich halbiert würde – nur eben ohne zu wissen, ob das gut oder schlecht ist.

// 

Die Reaktion der EU hingegen gefiel mir sofort. Zwar überrascht und sichtlich unerfreut ob der Tatsache an sich, aber auch unaufgeregt und verbindlich. In den Augen mancher hochrangiger EU-Capos schien geschrieben zu stehen: „Jetzt wollen wir zu diesem Thema nichts mehr hören, auf Wiedersehen und viel Spaß in eurer einsamen Zukunft, ihr Inselaffen.“ Nicht wie eine betrogene und gekränkte Geliebte, sondern durchaus mit Stolz und Selbstbewusstsein wurde hier reagiert. Das würde man sich von der EU wohl öfter wünschen, mit und ohne Großbritannien.

// 

Wenn man mit dem jüngeren Teil der Bevölkerung spricht, ist aber schnell klar, dass ein „Brexit“ nichts Zeitgemäßes sein kann. Sie fühlen sich um ihre Zukunftschancen betrogen, vorbei der Traum vom Studieren oder gar Arbeiten auf der Insel. Wirtschaftstreibende können nichts davon halten, weil der Austritt die Wirtschaft einerseits generell schwächt und anderseits ganz konkret Firmen über Fabriken und Außenstellen verfügen, die plötzlich nicht mehr in der EU liegen.

// 

Was bleibt, ist ein Denkzettel für die EU, den diese vielleicht gar nicht ausbaden muss. Glaubt man nämlich den Experten, dann schwächen die Briten mit ihrem Exit nicht nur Europa, sondern vor allem sich selbst. Und das wäre nicht nur im Sinne der Schadenfreude wünschenswert, sondern auch für die Zukunft der EU. Ein schlechtes Vorbild kann nämlich durchaus abschreckend auf weitere Wankelmütige wirken. Denn dieser neue Drang zum souveränen Staat, der vorwiegend aus Ländern mit einflussreichen nationalistischen Parteien kommt, birgt viel Gefahr in sich. Denn stolz-starke Einzelstaaten haben in Europa historisch vor allem eines bewirkt: Krieg. Und deshalb kann man die EU auch als notwendiges Übel sehen, um ein noch größeres, unnotwendiges Übel abzuwehren.

[email protected]