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Editorial

Tag und Nacht

E

in Freund aus Amerika war am Wochenende auf Kurzbesuch in Innsbruck. Seine Reise führt ihn in zehn Tagen durch ganz Europa, das er auf diese Weise besser bzw. überhaupt kennenlernen möchte. Im Rahmen unserer Sightseeing-Tour entdeckt Walter ein Plakat von „Ganz Innsbruck Tanzt“ und will wissen, was das ist. „Eigentlich eine lange Einkaufsnacht, die ein kulturelles Mascherl braucht, damit die Geschäfte bis 23 Uhr geöffnet haben dürfen und sich die Arbeiterkammer deshalb nicht zu sehr echauffiert“, mache ich die Sache noch komplizierter. Denn Walter weiß nicht nur nicht, was eine Arbeiterkammer ist, er kann auch nicht verstehen, was denn so schlimm daran sein soll, wenn man länger einkaufen kann.

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In Amerika haben die Geschäfte immer offen, am Abend, am Wochenende und natürlich auch am Feiertag. In Amerika gehen Wirtschaft und Konsum über alles, der Durchschnittsbürger hat oft bis zu drei Jobs, konsumiert meist nur eine Woche Urlaub im Jahr und kann trotzdem – als Dankeschön quasi – mit sofortiger Wirkung jederzeit entlassen werden. Über diese Schattenseiten will Walter nicht wirklich sprechen, vielleicht weil er selbst nur einen Job braucht, um das Auslangen zu finden, zwei Wochen Urlaub pro Jahr (die er gerade in Europa verbringt) und einen großzügigen Arbeitgeber hat, der ihn und die ganze Familie krankenversichert. Denn die Folgen eines so wirtschafts-liberalen Systems sind nicht von der Hand zu weisen: Die Kluft zwischen arm und reich ist riesig, Sozialleistungen und öffentliche Infrastruktur sind katastrophal, das Land trotzdem verschuldet und eine ernstere Krankheit muss man sich in Amerika erst leisten können.

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„In Österreich ticken die Uhren anders, hier verbringt ein Großteil der arbeitenden Bevölkerung damit, die Zeit bis zur Pension abzusitzen“, versuche ich – zugegeben recht polemisch – unsere Welt zu erklären. „Wir sind ein Land der Angestellten, das Privileg des Mitdenkens haben wir schon bei der Geburt abgegeben und gegen ein üppiges Sozialsystem getauscht.“ 

„In Österreich sind alle gleichgestellt und nur die wenigsten wundern sich darüber.“

„Dafür bezahlt man in Amerika weniger Steuern“, will Walter dagegenhalten und meint, dass beides – also Sozialsystem und wenig Steuern – nun wirklich nicht gehen kann. Stimmt vermutlich, denn dort, wo Walter lebt (Texas), liegt der Umsatzsteuersatz bei rund acht Prozent (bei uns 20 Prozent) und die Einkommenssteuer fällt selten über 20 Prozent aus (bei uns bis zu 50 Prozent).

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Amerika ist ein Land der Unternehmer, Österreich eines der Angestellten. In Amerika regieren Wirtschaftsbosse, in Österreich Beamte und Politiker. Amerikas Sozialleistungen sind minimal, in Österreich ist das soziale Netz dicht gespannt und äußerst großzügig. In Amerika ist jeder auf sich selbst gestellt und nur wenige schaffen es aus der Masse hinaus. In Österreich sind alle gleichgestellt und nur die wenigsten wundern sich darüber. Unterschiedlicher können zwei Länder gar nicht ticken und zwei Mentalitäten gar nicht gestrickt sein, doch wie so oft sind Extreme kein guter Ratgeber. Natürlich ist es idiotisch, dass man für eine einmalige Shopöffnung bis 23 Uhr den Staatsvertrag neu aufsetzen muss, doch vermutlich will man hier mit guten Absichten Verhinderung größeren Übels leisten. Denn mindestens so gerne wie Walter nach zehn Tagen wieder ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten zurückkehrt, so gerne bleiben wir im Land der begrenzten Unmöglichkeiten – auch wenn wir dafür am Tag einkaufen müssen, wenn wir dabei nicht tanzen wollen. 

 

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