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AUGUST 2017

Editorial

Über Nachbarn in Not und um Türkis und Rot

D

enkt man ein Jahr zurück, an den Höhepunkt der Flüchtlingskrise, konnte man sich zwei Dinge nicht vorstellen: Erstens, dass Angela Merkel noch einmal Kanzlerin wird, und zweitens, das HC Strache noch einmal nicht Kanzler wird. Wie unwahrscheinlich beide Szenarien inzwischen sind, dürfen wir uns erst mal am 24. September in Deutschland ansehen.

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Angela Merkel ist seit 2005 Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und hat in dieser Zeit geschafft, zu was wohl die wenigsten im Stande gewesen wären: einen lupenreinen Hattrick. Und damit meine ich nicht etwa drei Amtsperioden in Folge, sondern drei weltpolitische Kardinalfehler, die ihr nicht nur alle verziehen wurden, sondern sie sogar stets stärker gemacht haben. Fail 1: Griechenland kollabiert und Angi gibt zum ersten Mal die EU-Chefin. Der Rest lässt sich das gefallen und schaut zu, wie Griechenland dem Steuerzahler vor allem Geld kostet und sich trotzdem kaum erholt. Fail 2: Während sich die ganze Welt einig ist, dass man Flüchtlingen zwar helfen sollte, aber nicht unbegrenzt, weil sich das sonst als Boomerang erweisen wird, bringt Merkel einen auf Mutter Teresa. Sie ignoriert erwiesene Obergrenzen und bringt Europa in Gefahr. Fail 3: Die sonst recht weltoffenen Briten haben die Schnauze von Deutschlands Rolle als EU-Zampano und der damit verbundenen Flüchtlingskrise voll und treten aus der EU aus. Merkel fühlt sich weder schuldig noch angesprochen.

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Welch geniale Strategin in Angela Merkel steckt, sieht man nicht nur daran, dass ihr das alles nicht geschadet hat. Im Gegenteil: Deutschland steht hinter ihr und wird sie zum vierten Mal in Folge zur Bundeskanzlerin wählen. Angi bleibt die Nummer eins, mit wenigen internen Gegnern und gar keinen in der Opposition. Wir können uns gemütlich in die Zuschauerposition begeben und beobachten, welche Überraschung sie sich in der vierten Amtszeit für ihr Europa einfallen lassen wird.

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Wie eingangs erwähnt, haben Vergesslichkeit und Desinteresse der Menschen nicht nur schlechte Auswirkungen. Während HC Strache monatelang seine Bundeskanzlerstimme trainierte und staatstragende Brillenmodelle durchprobierte, hat sich die Welt auch in Österreich verändert. Die Flüchtlingskrise hat an Präsenz verloren, die modernen Antipolitiker Kurz und Kern an ebendieser gewonnen. Und so geht es im österreichischen Wahlkampf nicht nur um Flüchtlinge und rechts oder links, sondern auch um Personen. Das, was jahrelang in Österreich schwierig war, ist am 15. Oktober endlich möglich: Man muss sich die Spitzenkandidaten nicht wegdenken, wenn man sein Kreuzchen macht. Denn in einer Zeit, wo es den Eindruck macht, dass alle Parteien gleich anfällig für Machtmissbrauch zu sein scheinen, zählt der Mensch oft mehr als das Parteiprogramm. Und mit ein bisschen Optimismus darf man diesmal sagen: Es geht nicht um Pest oder Cholera, sondern nur um Schnupfen oder Halsweh.

 

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