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DEZEMBER 2019

Editorial

Willi und die drei Umschläge

E

s war ein großer Tag für Willi. Die Bienenkönigin Kassandra litt unter ihrer immer geringer werdenden Beliebtheit bei den undankbaren Bienen. So schlug sie vor, dem netten Willi die Leitung des Volks zu übergeben. Im Hintergrund würde sie sich selbstverständlich weiterhin um alles Wichtige kümmern. Sichtlich überrascht willigte Willi ein, stellte aber eine Bedingung: Kassandra sollte seine Stellvertreterin werden und alle anderen Leitungsbienen sollten weiterhin im Amt bleiben. Als der brave Willi schließlich das Zepter der Königin übernahm, reichte sie ihm noch einen Umschlag und sprach: „Wenn du nicht mehr weiterweißt, dann öffne das Kuvert.“ Willi war erleichtert.

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Das erste Jahr verflog im Nu und doch war es ein schwieriges gewesen. Denn dem Bienenvolk war der Honig ausgegangen. Kassandras letzte Projekte – eine Bienen-Bahn auf den Hummelberg, eine Bienibliothek mit tausenden Honigsorten zum Ausleihen und das Projekt „Honig zum Hören“ – waren ordentlich an die Reserven gegangen. Zudem wurde im ganzen Stock gearbeitet. Die Bienen ärgerten sich über die vielen Baustellen und machten ihren neuen König dafür verantwortlich. Willi war verzweifelt. Da erinnerte er sich an den Umschlag und zog ihn sogleich hervor. Zu seinem Erstaunen entdeckte er darin drei weitere Kuverts. Er öffnete das erste, in dem stand: „Schieb alles auf mich.“ „Welch ausgezeichneter Rat“, dachte er und war sogleich frohen Muts.

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Das ansonsten brave Bienenvolk war aber weiterhin unzufrieden. Die Bienen waren böse, dass die Bienen-Bahn fast die gesamten Honigvorräte der Stadt verbraucht hatte und man damit gar nicht soviel Spaß haben konnte wie versprochen. Kurz vor der Sitzung des monatlichen Bienenrats blieb dem König also gar nichts anderes übrig, als das zweite Kuvert zu öffnen. Darin stand geschrieben: „Schieb alles auf mich.“ Willi tat, wie ihm geheißen, und ließ Kassandra vom Bienenrat abwählen. Erstmals fühlte er sich wie ein richtiger König. Betrunken vor Stolz erklärte er sogleich dem benachbarten Volk, den Fliegen, den Krieg. Die umliegenden Stämme waren entsetzt, aber auch seine eigenen Bienen verstanden die Welt nicht mehr. Man hatte sich doch längst aneinander gewöhnt und war jahrelang mehr oder weniger gut miteinander ausgekommen! Andere Stammesväter redeten dem König ins Gewissen. Und noch bevor der Krieg losging, beendete ihn Willi vernünftigerweise auch gleich wieder.

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Im nächsten Bienenrat stand dem armen König Willi noch weiteres Unheil bevor. Denn obwohl er Kassandra vor die Tür gesetzt hatte, war sie plötzlich wieder da. Und noch schlimmer: Sie hatte auch noch die Spinne Thekla mitgebracht, die nun wirklich gar keiner mochte. Willi war so verzweifelt, dass er schließlich auch noch das dritte und letzte Kuvert öffnete. Darin stand geschrieben: „Es ist an der Zeit, drei Kuverts zu beschriften.“ 

 

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