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MAI 2015

Editorial

Aber bitte Mitgefühl

A

uf der Welt passieren viele schreckliche Dinge. Ob und in welchem Ausmaß die Information über diese Tragödien bei uns landet, hängt von mehreren Kriterien ab. Generell gilt: Je weiter das betroffene Land entfernt ist, desto kleiner fällt die Meldung aus. Die wirtschaftliche Relevanz des betroffenen Staates spielt natürlich auch eine Rolle, ebenso sollten Religion und Mentalität der Bevölkerung der unseren ähneln, um die Empathie zu erhöhen. „700 Menschen in chinesischer Provinz von Regenfällen überrascht und ertrunken“ kann dabei deutlich weniger Aufmerksamkeit erregen als „Tiroler Bürgermeister von Gams attackiert“.

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Der Flugzeugabsturz Ende letzten Jahres des Asia Air schaffte es hierzulande nur in die Randspalten, der Germanwings-Crash hingegen füllte tagelang Titelseiten in ganz Europa. Natürlich auch aufgrund der besonders kranken Umstände, aber letztendlich kennen die meisten Menschen hierzulande weder Opfer des einen noch des anderen Unfalls und besitzen auch im Regelfall keine Aktien der beiden Fluggesellschaften. Die Erklärung dafür: Interesse und Mitgefühl wachsen dadurch, dass man sich halbwegs plausibel einreden kann, es hätte einen selbst erwischen können. Die beliebtesten Phrasen zum Mitreden: „Und ich wollte dieses Jahr nach Barcelona fliegen.“ „Genau mit diesem Flugzeug ist ein Freund von mir vor zweieinhalb Jahren fast geflogen!“ „Und wir hatten unseren nächsten Wanderurlaub nur 200 Kilometer von der Absturzstelle geplant.“    

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Mitleid braucht also nicht nur Nähe, sondern auch das Gefühl, dass man selbst zu den Glücklichen zählt, denen nichts passiert ist, obwohl dies durchaus im Bereich des Möglichen gelegen wäre. Das erklärt vielleicht auch, warum zum Beispiel die fast tausend Opfer des gesunkenen Schlepperbootes und die zahlreichen vorangegangenen Unfälle dieser Art weder großes Mitleid noch längst fällige Maßnahmen auslösen.

Interesse und Mitgefühl wachsen dadurch, dass man sich halbwegs plausibel einreden kann, es hätte einen selbst erwischen können.

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Hätten sich auf diesem Boot nur eine Handvoll Europäer befunden, wäre die Dramatik deutlich größer und der Drang, etwas zu ändern, wesentlich stärker. So macht es ja fast den Anschein, als ob diese Tragödien der europäischen Einwanderungspolitik in die Hände spielen. Frei nach dem Motto: „Den Teil, der nicht ertrinkt und in Europa aufgegriffen wird, schicken wir einfach nach Italien zurück. Die haben eh schon so viele Probleme, da kommt es auf eines mehr nicht an.“ In Wirklichkeit kann man dieses Thema aber nicht allein der Politik vorwerfen, man interessiert sich selbst zu wenig dafür. Denn die Tragödie betrifft einen selbst nicht und man kann sich auch kaum vorstellen, dass sie dies tun könnte. Religion und Mentalität der Verunglückten sind einem fremd und es fällt dadurch schwerer, Mitgefühl aufzubauen. Auch das Heimatland der Opfer ist weit genug vom eigenen Horizont entfernt, und so bleibt eigentlich nur die Todesursache, die wiederum auch Hartgesottenen zusetzt.

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Was bleibt sind Egoismus, Verdrängung und Ignoranz, die uns zwar herzlos und kalt wirken lassen, in Wirklichkeit aber auch die Schutzheiligen eines glücklichen oder zumindest sorglosen Lebens sind.

 

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