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MAI 2015

Essay

Vom Selfie-Boom zur Video-Vision

Nicht das Fernsehen nähert sich dem Ende, sondern das Patschenkino ist todkrank. Die ORF-Info leidet dennoch keine Quoten-Not, und Servus Krone sucht das herkömmliche Publikum (heim). Dem zum Ego-Video ausufernden Selfie-Boom werden trotzdem auch die großen Medienmacher nicht entkommen. Doch die Tele-Vision benötigt eine demokratiepolitische Qualitätsdiskussion.

W

enn der Falter pünktlich zum Herbstbeginn „Das Ende des Fernsehens“ titelt, ist ihm auch ein Missverständnis dieses Abgesangs sicher. Denn der Tod ist eine Frage der Definition – des noch Lebenden. TV im herkömmlichen Sinn liegt längst am Sterbebett. Die einstigen Lagerfeuer der Nation gibt es nicht mehr. So wie die klassischen Familien immer weniger werden, so wie das gemeinsame Frühstück, Mittag- und Abendessen ständig seltener stattfindet, so ist auch die Zeit im Bild („Pssst, der Papa will fernsehen!“) kein häuslicher Generalversammlungsort der Generationen mehr. Das Durchschnittsalter des Publikums von 60plus spricht für sich – und gegen ein noch langes Leben der traditionellen Hauptnachrichten des ORF. Doch obgleich der Tod des einstigen Patschenkinos so gewiss wirkt wie das Ende des Röhrenbildschirms, ist die ZIB 1 noch die tagtäglich meistgesehene Fernsehsendung in Österreich – lediglich übertrumpft von der gemeinsamen Quotenkraft aller neun Bundesland heute-Ausgaben.

Im Winter ohnehin ein Millionen-Angebot, kratzt sie auch im April noch an der siebenstelligen Live-Zuschauermarke. Erst im Sommer ist sie um 19.30 Uhr der Konkurrenz der Gastgärten nicht mehr gewachsen – wird jedoch umso mehr per TVthek konsumiert.


Kronen Zeitung und ServusTV.

Die jüngere Schwester der Info-Seniorin, die mittlerweile auch schon 40-jährige ZIB 2, erreicht um 22 Uhr zwangsläufig keine so hohen Werte und liegt dennoch im Altersschnitt des Publikums auch schon bei 60. Doch dieser Trend zum wirklichen Pensionsalter ficht die Macher so lange nicht an, wie ihre Zuschauerzahl noch steigt. Das Jahresmittel war in der vergangenen Dekade schon auf 470.000 gesunken, nun liegt es wieder klar über einer halben Million. Das reicht zwar nicht zum Lagerfeuer der Nation, widerspricht aber jeglichem Ende der klassischen TV-Information. Ungeachtet der hauseigenen TVthek und On-Demand-Angeboten wie Netflix halten die Nachrichtentanker den Kurs.

TV im herkömmlichen Sinn liegt längst am Sterbebett.

 

Ausgerechnet am Vorabend um 18.30 Uhr  fordert der Marketing-Guru die föderale Informations- und Unterhaltungskompetenz des Öffis mit Hilfe der regionalen Redaktionen der Kronen Zeitung heraus, die mit durchschnittlich 2,3 Millionen Lesern der einzige wirkliche tägliche bundesweite Quoten-Gegenspieler des öffentlich-rechtlichen Fernsehens ist. Die Partner haben im heimatlichen Traditionsbewusstsein große Übereinstimmungen ihres jeweiligen Publikums entdeckt. Servus merzt damit seine mangelnde Tiefenverwurzelung in den Bundesländern aus, die Krone behebt derart ihr Bewegtbilderproblem.

Tiroler Tageszeitung, TirolTV und tt.com.

Denn so todkrank das Patschenkino auch sein mag, so jugendfrisch lernen immer noch mehr Bilder das Laufen. Das Ende des Fernsehens ist ein großer Irrtum, wenn es die Nutzung der Mobilität auf dem Bildschirm meinen sollte. Nicht von ungefähr verhandeln die österreichischen Verleger schon lange mit dem ORF über die Ausstrahlung von dessen Beiträgen auf den diversen Zeitung-Websites. Die Tiroler Tageszeitung übernimmt unterdessen bereits mit beachtlichem Publikumserfolg TirolTV-Chronik-Beiträge auf tt.com.

Nicht jede asiatische Massen-Manie ist bloß eine Touri-Torheit.

 

Kaum ein ernstzunehmender Produzent – gleichgültig ob kaufmännisch, technisch oder inhaltlich – traditioneller Medien glaubt heute noch daran, dass sich sein Ding auch weiterhin nur als Text, bloß als Ton und lediglich als Fernsehen vermitteln lässt. Multimedia vom Embedded Video in online-gerechten Texten bis zum Second Screen für herkömmliche TV-Beiträge ist die Zukunftsmusik für Presse, Funk und Fernsehen. In der professionellen Bewältigung dieser Tele-Vision liegt das Content-Überlebenselixier dieser Unternehmen, die vor allem den Unterschied zu all den Amateurprodukten deutlicher machen müssen, die von YouTube bis Snapchat im Sekundenbruchteiltakt geteilt werden.

Jeder Empfänger ein Sender.

Die technische Fähigkeit der einstigen Empfänger ist heute auf Augenhöhe mit jener der früheren Sender. Neben der Bereitschaft zu dauernder Kommunikation und der Fähigkeit zu permanenter Interaktion muss also mehr denn je die inhaltliche Kompetenz den Ausschlag geben, warum ein professionelles journalistisches Angebot besser ist als die Weblog-Einträge von Amateuren. Für beide Gruppen aber gilt, was einst zumindest bei den Redakteuren geradezu verpönt war – die Selbst-Zurschaustellung. Ohne Exhibitionismus funktioniert kein Wettbewerb, dessen Teilnehmer sich in aberwitziger Geschwindigkeit vervielfachen. „The Media ist the Message“ (Marshall McLuhan) gilt mehr denn je in dieser „Brave New World“ (Aldous Huxley), doch die Ego-Botschafter überstrahlen zunehmend ihr Produkt, denn jede und jeder giert nach seinen „15 Minutes of Fame“ (Andy Warhol).