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MAI 2015

Essay

Zick-Zack ab Margaretenplatz

Oder: Der Satz des Rachid

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nsere heutige Episode spielt in Wien. Für alle, denen das jetzt nichts sagt: Wien. Ach, Wien. Als sie bei Hofer Reisen New York, Dubai und Stockholm noch nicht im Programm hatten, ist man da manchmal hingefahren. Heute tun das nur mehr verkappte Monarchisten, Musical-Fans und Leute, die beruflich was in diesem properen Städtchen nahe St. Pölten zu erledigen haben. 

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Ich also jedenfalls neulich in Wien. 1. Bezirk, Ringstraße, nachmittags. Mit einem gekonnt geächzten »Zum Westbahnhof, bitte« ließ ich mich auf die Rückbank eines Taxis fallen. Normalerweise sitze ich ja aus Prinzip nicht hinten, weil neo-koloniale Herrschaftsgeste, Stichwort: Tropenhelm und Nilpferdpeitsche, und so weiter. Doch der Beifahrersitz war voll gepackt mit Gratiszeitungen, und wer weiß, wie viele es davon in Wien gibt, kann sich sicher vorstellen, dass für mich da beim besten Willen kein Platz gewesen wäre.

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Weil wir gerade beim Vorstellen sind: Wenig überraschend verzichtete der Chauffeur darauf, seinen Namen zu nennen, als ich mich zu ihm in die Motordroschke wuchtete. Ich meine, ich bin ja nicht der Kaiser von China, dass da jemand gleich persönlich wird. Damit Sie sich aber ein Bild machen können, möchte ich Sie bitten, sich ihn als Rachid vorzustellen. So für die grundlegende ethnische Richtung. Wenn Sie jetzt zufällig mit einem Rachid verheiratet sind, der wie ein Hubert aussieht, kann ich halt auch nichts machen.

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Jedenfalls fragte Rachid, während er den schweren Wagen aus Stuttgarter Produktion wendete: »Wann geht der Zug?« Um halb fünf, antwortete ich wahrheitsgemäß. Er drehte sich zu mir um. »Das wird aber knapp.« Ich nickte, fast ein wenig verlegen. »Wenn es sich nicht ausgeht, auch kein Problem. Der nächste Zug geht eh schon in einer Stunde«, säuselte ich nach vorn, ganz super-unkomplizierter Fahrgast (siehe neo-koloniale Herrschaftsgeste). 

Und dann sagte Rachid einen großartigen – nein, einen großen, einen erhabenen Satz.

Rachid murmelte etwas von: »Warum steigen bei mir immer Leute ein, die unbedingt einen Zug oder Flieger erreichen müssen?«, und ordnete sich in den Verkehr ein. Also wies ich ihn nochmals darauf hin, dass es nicht so tragisch, um nicht zu sagen: wirklich scheißegal wäre, ob wir rechtzeitig am Bahnhof ankämen oder nicht. Zumal ich mir die Zeit ja mit einem Kaffee oder so und so weiter.

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Da hatte Rachid aber offensichtlich schon in den Rennmodus geschaltet. »Hier geht’s noch schön gerade aus«, hörte ich ihn sagen, nachdem wir mit hoher Geschwindigkeit eine Abzweigung in eine für den öffentlichen Verkehr reservierte Fahrbahn genommen hatten, »aber ab Margaretenplatz müssen wir Zick-zack«. Sprach’s und fuhr wenig später tatsächlich derart ungestüm, um nicht zu sagen: kriminell durch den beginnenden Feierabend-Verkehr, dass ich Mühe hatte, mithilfe meines Handys überhaupt den Bahnsteig zu eruieren. Ja, und so eine kleine Übelkeit schleimte sich angesichts des kompromisslosen Fahrstils auch rein.

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Und dann sagte Rachid unvermittelt einen großartigen – nein, einen großen, einen erhabenen Satz, den ich hiermit allen post-liberalen Craft-Beer und Premium-Gin schlürfenden, semiveganen, vielfliegenden Städtetripp- und Klimaschutz-Freunden und ihren Hardcore-Patchwork-Familien gleich mit ins Stammbuch schreiben möchte: »Radfahrer«, sagte Rachid, »sind wie Fliegen an einem Sommernachmittag.«

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Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer vielleicht: Den Zug habe ich in letzter Sekunde erreicht. Dafür war mir die ganze Fahrt schlecht. Aber wissen Sie was? So ein Satz ist das wert.

 

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