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JULI 2014

Essay

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Dieser Beitrag plätschert so vor sich hin, aber in Zeile 79 passiert etwas Unglaubliches.

Z

ugegeben, das ist jetzt vielleicht nicht die feine Art, Sie hereinzulocken in unsere geschmackvoll angelegte Poollandschaft von einer Julikolumne. Aber was soll ich machen? Gegen die ganz großen Gefühle kommst du heute als kleiner Kolumnenbetreiber ja nicht mehr an. Die Leute von 6020er Stadtblatt haben mir gesagt: Wenn der Vorspann nicht passt, springt schon mindestens einmal ein Drittel aller Leser ab. Ich hab gesagt: Worte können gar nicht beschreiben, wie scheißegal mir das ist, ihr Nasen. Aber das war natürlich gelogen.

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Weil bis Zeile 79 noch ein bisschen Zeit ist, was in eigener Sache: Man braucht sich genau überhaupt nichts vorzumachen, sehr geehrte Damen und Herren leserseitig. Liegestühle raus, Früchtecocktail aus der Dose und Schirmchen zurecht gelegt, das Bier im Kühler – damit bei der superentspannten Beachparty, die Sie mit dem Freizeitticket, aber auch sonst selbstredend gratis besuchen, auch nichts abgeht. Und dann das eine oder andere Witzchen dort, ein lässig hingerotzter Abbinder, und fertig ist die Gute-Laune-Packung für den Sommer. So hat man das früher gemacht, jawohl. Aber heute? Wenn man nicht mit ganz großen Gefühlen ankommt, befindet man sich 2014 doch auf verlorenem Posten.

Du glaubst nicht, was dieser blinde Junge (3) aus Kabul als vierten Hauptsatz der Thermo-dynamik bezeichnet.

 

Kein Wunder bei diesen Videos. So in der Art: Ein Ex-Junkie stolpert beim Ironman bei Kilometer 202 über seine Zunge, trägt dann aber noch zwei Teilnehmer ins Ziel und ihre 95-jährige Trainerin volé zur Chemo. Oder: Erst sieht alles wie ein ganz normaler Raubüberfall mit halbautomatischen Waffen aus, aber dann kommt Jesus und verteilt kostenlose iPads. Oder: Du glaubst nicht, was dieser blinde Junge (3) aus Kabul als vierten Hauptsatz der Thermodynamik bezeichnet.

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Wem das nicht reicht, der versorgt sich bei Serien. Wenn zum Beispiel bei „Game of Thrones“ große Gefühle angesagt sind, sprich: irgendeine adelige Sippschaft abgestochen wird, dann sind alle wahnsinnig gerührt. Aber dann fällt irgendwem doch ein, dass man seinen emotionalen Zustand unbedingt twittern muss, oder man hat plötzlich volle Lust auf einen McFlurry mit Smarties und twittert halt dann das. Wo sind nur die guten alten Serienhits geblieben? Bei „Knight Rider“ hat nachweislich nur eine Person ein einziges Mal geweint: David Hasselhoff, als er sich die Hand beim Türzuschlagen eingeklemmt hat. Aber das nur am Rande.

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Ich frage Sie, verehrte Freunde lauer Sommernächte, womit ich als kleine schreibende Analogpfeife dagegen halten soll. Was kann ich angesichts der großen Emotionen schon anbieten? Meine morgendliche Badezimmervisage zum Beispiel, die macht betroffen. Aber a) in erster Linie mich und b) maximal eineinhalb Sekunden. Daraus lässt sich doch keine seitenfüllende Geschichte stricken (na vielleicht doch, aber um das geht es jetzt nicht). Die Leute von 6020er Stadtblatt haben mir gesagt: Schreib einfach, was gut ankommt. Ich hab gesagt: Worte können gar nicht beschreiben, wie das bei meinen Lesern nicht geht, ihr Nasen. Gemessen an den Reaktionen ist heuer die Geschichte mit den spuckenden Chinesen am besten angekommen. Soll ich mich deshalb ab sofort nur mehr mit Asiens beneidenswert gelassenem Umgang mit Körpersäften und -funktionen beschäftigen? So nach dem Motto: Thema heute – die berühmten Schaastrommeln von Pjöngjang?

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Ja, und da sind wir auch schon bei Zeile 79 angelangt. Und es passiert natürlich nichts Unglaubliches. Aber immerhin: Dieser Beitrag wurde mit zwei gestreckten Mittelfingern geschrieben.