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FEBER 2015

Essay

Altmodische Rotze

Ist die Schreibschrift am Ende etwas, wo keiner mehr braucht?

M

ein lieber Schwan, das waren ja mal Neuigkeiten aus dem hohen Norden, oder? Die Finnen kommen nicht nur mit 1,2 Litern Blut pro Einwohner aus, ab 2016 pfeifen unsere blassen Freunde auch auf die Schreibschrift in der Schule. Weil: Braucht keine Sau mehr, die altmodische Rotze. Starke Ansage, wenn Sie mich fragen. Aber mich fragt ja niemand. 

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Jedenfalls: Ich dachte ja bisher, wenn der Finne nicht gerade Unmengen trinkt, ist er skispringen oder tötet Tiere für den Eigenbedarf. Aber damit wird man diesem innovativen Völkchen am Polarkreis nicht gerecht. Hin und wieder beseitigt der Finne auch Kulturtechniken. Und deshalb lernen die Kleinfinnen in Zukunft anstelle der Schreibschrift volée den Umgang mit der Tastatur.

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Da drängen sich natürlich Fragen auf. Zum Beispiel: Wie sollen die armen Kinder später einmal Klowände mit obszönen Parolen beschmieren? Wie als superwichtige Erwachsene an unleserlichen Notizen verzweifeln, die mit „Unbedingt …“ oder „Ganz wichtig: …“ beginnen? Oder am Valentinstag eine schöne Packung Wein aufreißen und der Liebsten einen selbst geschriebenen Liebesbrief überreichen? Bitte, Druckbuchstaben machen sich nur auf Bekennerschreiben oder Erpresserbriefen wirklich gut.

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Der pure Wahnsinn. Ich wollte schon bei Pegida eine Demo bestellen, aber dann besunn/besann/besonnte ich mich eines Besseren. Weil: Vielleicht haben die Finnen ja doch Recht. Ich frage mich sowieso schon seit Längerem, warum man noch lesen lernen soll. Gut, ich kann’s ja schon, aber irgendwann kommt doch der Schlaganfall, und dann gilt es vielleicht eine Entscheidung zu treffen. Es ist ja so: In YouTube kann man sich wirklich prima von einem Video zum nächsten klicken – ganz ohne lästiges Herumgelese. Und im Grunde reicht das doch.

 

Sind Trigometrie, Alegra, Gedichtsinpretion und so weiter noch zeitgemäß?

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Wissenschaftler oder so haben übrigens herausgefunden: Egal bei welchem Clip Sie auf YouTube einsteigen, spätestens nach elf Klicks landen Sie bei einem Filmchen, in dem jemand ein iPhone 6 verbiegt oder sich auf unfassbar dämliche Weise verletzt. 

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Die entscheidende Frage ist aber natürlich eine ganze andere, nämlich: Lernen unsere Kinder und Jugendlichen das Richtige? Sind Trigometrie, Alegra, Gedichtsinpretion und so weiter noch zeitgemäß? Man braucht sich da nichts vorzumachen: Am Gymnasium übersetzen sie noch immer ausgewählte Catull-Gedichte in ein deutsch-ähnliches Bedeutungsnirvana, aber wenn Sie wissen wollen, wie man eine DDoS-Attacke auf die Notenbank von El Salvador startet, ernten Sie ratlose Gesichter. Dasselbe Elend bei heutzutage essenziellen Fragen wie: An welchen Geheimdienst muss ich mich wenden, wenn ich meine Kreditkartenabrechnung nicht mehr finde? Oder: Wie stellt man einen Löschantrag bei Google? 

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Über kurz oder lang wird sich wohl auch bei uns der Unterricht verändern. Da heißt es dann in der ersten Stunde nicht mehr Biologie und Umweltkunde, sondern: Selbstdarstellung. Die Kinder lernen, wie man auf Selfies seine Zähne auf Ultrapolarweiß runterfärbt und lästige Objekte im Bildhintergrund (Eiffelturm, Taj Mahal etc.) entfernt.

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Zweite und dritte Stunde steht dann am Programm: Facebook-Privatsphäreeinstellungen. Die sind megawichtig und bald auch ein Universitätsstudium. Vierte Stunde: Geschichte. Aber nicht mehr mit dem griechisch-römischen Alt-England-Scheiß, sondern lebensnah. Nach dem Motto: „Als man Dinge noch kaufte und nicht holte.“ Oder: „Sparen – what the fuck?“ Fünfte Stunde schließlich: Bestellkunde. Natürlich ein Hauptfach. Zahlungsmethoden, Bekleidungslogistik, Retourenlehre, kurz: alles, was du als Konsumknecht wissen solltest.

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Weil es ist doch so: Man muss die Jugend auf das Leben vorbereiten.  

 

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