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SEPTEMBER 2020

Essay

Altersweisheit

Was wir von Meister Liu lernen können

A

n seinem zwölften Geburtstag beschloss Jin Ma, mindestens 100 Jahre alt zu werden. Weil er wusste, dass alles im Leben harte Arbeit war, suchte er Rat bei seinem Vater. Was muss ich tun, um 100 Jahre alt zu werden, Vater, fragte er ihn beim Zubettgehen. Der Vater strich Jin Ma über die Wange und antwortete: Ich bin ja gerade einmal halb so alt, mein Junge. Frag besser deine Großmutter.

 

So eilte Jin Ma am nächsten Morgen zu seiner Großmutter. Kaum in ihrem kleinen Garten angekommen, rief er ihr schon entgehen: Großmutter, sag mir, wie ich 100 Jahre alt werde! Die Großmutter richtete sich auf, rückte ihren Reishut zurecht, der ihr beim Jäten verrutscht war, und sagte: Nächstes Jahr werde ich 75 Jahre alt. Dann fehlen mir immer noch 25 Jahre, um zu wissen, wie man 100 Jahre alt wird, mein geliebtes Jade-äffchen. Frag besser Meister Liu, der ist alt genug.

 

Also schnappte sich Jin Ma das Fahrrad seines Bruders und fuhr auf verschlungenen Wegen bis zum Fuße jenes Berges, auf dem Meister Liu als Einsiedler lebte. Mit jedem Schritt, den Jin Ma in den Staub des Bergpfades setzte, wuchs seine Aufregung. Außer Atem, aber voller Vorfreude erreichte er schließlich die ärmliche Behausung, die aus nicht viel mehr als ein paar Brettern zu bestehen schien, die man zwischen einem Kiefernstamm und der mächtigen bis zum Gipfel reichenden Felswand befestigt hatte. Meister Liu selbst saß vor seinem Heim und blickte lächelnd in die Ferne.

 

Lieber Meister Liu, sagte Jin Ma, nachdem er sich mit vor der Brust gefalteten Händen verbeugt hatte, ich muss wissen, wie man 100 Jahre alt wird. Lange Minuten vergingen, ohne dass Meister Liu überhaupt Notiz von seinem jungen Besucher zu nehmen schien. Schließlich antwortete er, den Blick immer noch auf den Horizont gerichtet: 

Lieber Meister Liu, ich muss wissen, wie man 100 Jahre alt wird.

Indem man nicht davor stirbt. Jin Ma wusste nicht, ob er lachen oder die Antwort des Einsiedlers dankbar hinnehmen sollte. Der Respekt vor dem weisen Mann verlangte von ihm, sich leise zurückzuziehen; doch sein Wunsch, dem Geheimnis des Alters auf den Grund zu gehen, war stärker.

 

Bitte, Meister Liu, rief Jin Ma seine Ungeduld leidlich unterdrückend, verratet mir, wie ihr es geschafft habt, 100 Jahre alt zu werden! Meister Liu sah weiterhin ungerührt in die Ferne, und wieder verstrich einige Zeit. Doch plötzlich schloss der Einsiedler die Augen, und nach einem kräfigen Atemzug sprach er: 

 

Seit 70 Jahren lebe ich auf diesem Berg. Mein Tag beginnt mit dem ersten Sonnenlicht und endet, wenn die Dämmerung hereingebrochen ist. Nach dem Aufstehen mache ich immer eine Stunde meine Qigong-Übungen, dann gehe ich barfuß spazieren. Dreimal täglich meditiere ich. Ich esse weder Fisch noch Fleisch, rauche und trinke nicht. Berauscht fühle ich mich beim Anblick einer prächtigen Lotosblüte, mein liebster Nachtisch ist ein Glas Wasser, nicht zu kalt. Ich habe mich zeitlebens von Frauen ferngehalten und gehe jeder Zerstreuung und jeder Aufregung aus dem Weg. Seit 1982 habe ich insgesamt keine 20 Minuten auf einem Stuhl gesessen und ich habe mich dreimal geärgert. Einmal aus Versehen.

 

Und wie ist das Leben so, fragte Jin Ma, glücklich den Schlüssel für ein hohes Alter erhalten zu haben. Es ist fürchterlich, sagte Meister Liu. Einfach fürchterlich. 

 

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