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FEBER 2016

Essay

Gedankenaerosol

Über die … die … na … über die Dings, die Vergesslichkeit

D

ie Vergesslichkeit hat einen schweren Stand. Zum einen ist sie schon einmal selber total vergesslich. Und dann wird sie von einem Großteil der Menschheit auch noch als Gebrechen betrachtet. So im Bereich zwischen nachlassendem Geschmackssinn und beim Pinkeln immer eine halbe Minute warten müssen, bis was kommt.

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Dabei hat die Vergesslichkeit auch ihre guten Seiten: 56 v. Chr. zum Beispiel unterließ es der römische Stoßtrupp-Kommandant Marcus Amnesius Totalus, einen kleinen Landzipfel an der Küste der heutigen Normandie zu erobern. Grund: „Ich weiß selber nicht, wie das passieren konnte, o Cäsar, ich hab’s einfach vergessen“, wie der zum Raubtierfutter beförderte Ex-Kommandant zwei Monate später gegenüber einem ziemlich ausgehungerten Löwen beteuerte.

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Amnesius hatte sich das mit der Eroberung noch am Vorabend beim Zubettgehen alles genau durchgedacht, aber als er sich am nächsten Morgen von seiner Liege erhob, war die ganze Sache wie weggeblasen. „Centurio“, sagte er zu seinem unfassbar bescheuert dreinblickenden Centurio, während er sich mit einer Freeletics-Übung abmühte, „schau nicht so unfassbar bescheuert und stell stattdessen Abmarschbereitschaft her, wir werden uns einmal in England umsehen. Aber Achtung, da ist Linksverkehr.“

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Jedenfalls: Noch heute feiern die Menschen dieses kleinen nicht-eroberten Landzipfels, der sich bei der Topographie-WM in der Kategorie „Infantiler Humor“ sogar schon mehrfach gegen den finnischen Meerbusen durchsetzen konnte, jedes Jahr ein großes Vergesslichkeitsfest. Aber natürlich nie am selben Tag. Damit es sich wirklich niemand merken kann.

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Die Wissenschaft streitet noch, wie Vergesslichkeit entsteht. Es sieht aber sehr danach aus, dass vergessliche Menschen Gedanken versehentlich ausatmen. Deshalb auch die Redewendung: Der Gedanke war wie weggeblasen. Einmal exhaliert schwebt der Gedanke als Aerosol in der Luft und ließe sich eigentlich auch wieder einsaugen.

Einmal exhaliert schwebt der Gedanke als Aerosol in der Luft.

 

Wenn jemand also die bekannte Großmutter-Schwellen-Technik bemüht, das heißt kurz den Raum verlässt und gleich wieder reingeht, und es fällt ihm jetzt glatt wieder ein, was er eigentlich wollte, dann deshalb, weil er den Gedanken dank glücklicher Fügung zurück ins Gehirn gesnieft hat. Wie das genau funktioniert, ist wahnsinnig kompliziert. Ich schlage vor, Sie befragen dazu einfach Ihren Hausarzt.

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Ich selbst leide seit einiger Zeit übrigens an einer sehr spezifischen Form der Vergesslichkeit. Kein Witz. Gerade wenn ich mit dem Duschen fertig bin, weiß ich plötzlich nicht mehr, ob ich mich überhaupt einshampooniert habe, weshalb ich umgehend eine Sicherheitsseifung veranlasse. Das ist tragisch und lächerlich zugleich, hilft aber wenigstens der Haarwaschmittelwirtschaft.

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Nur 0,00001 Prozent der Gesellschaft sind von der Vergesslichkeit überhaupt nicht betroffen. Diese Menschen heißen Gedächtniskünstler und nehmen an obskuren Weltmeisterschaften und nicht weniger eigenartigen ARD-Sendungen teil, für die Kinder in Mittelschichtsfamilien samstags länger aufbleiben dürfen. Dort vollbringen sie so unglaublich spektakuläre wie unglaublich sinnlose Merkleistungen. Die Gedächtnis-Künstler, nicht die Kinder.

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Wobei letztere sich ja so viel mehr merken können als wir saudepperten Erwachsenen. Nur halt nicht, dass sie endlich einmal auch Tante Hermine ein Begrüßungs­bussi geben sollen, weil die sonst wieder den ganzen Tag beleidigt ist. Und man kann Tante Hermine ja auch so küssen, dass man die Warze fast gar nicht berührt.

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Jedenfalls: Es ist natürlich in der Tat möglich, sich im Dienste der Fernsehunterhaltung die Reihenfolge von 3.500 Katzenbildern einzuprägen. Viel klüger wäre es aber doch, den Kack einfach aufzuschreiben, oder noch besser: es gleich ganz zu vergessen.

 

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