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FEBER 2020

Essay

Hitler war ja auch Vegetarier

Ein Selbstgespräch.

A

lso, wenn du gewusst hättest, wie schwer dir der Verzicht fällt, wärst du vielleicht kein Vegetarier geworden. Ha, wird jetzt der eine oder andere omnivor veranlagte Genussmensch leserseitig sagen, da haben wir’s – endlich gibt es einer dieser eisenunterversorgten Karottisten und Avocanados zu!

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Wie immer siehst du dich veranlasst, deine Leser zu ihrem luziden Verstand zu beglückwünschen, musst aber zugleich festhalten: Du vermisst Steaks, prall gefüllte Würste, den Weltmeeren abgerungenes Fischfilet oder sonstige Spezereien tierischer Herkunft ja überhaupt gar nicht. Wovon du nächtens träumst, nachdem du dich am Küchentisch über dem Zettel mit den neuesten Katastrophenblutwerten in den Schlaf geweint hast, ist etwas ganz anderes: Einfach wieder einmal ein Essen bestellen und niemanden kümmert es. Einfach mal nicht Sätze sagen müssen wie: Huhn ist auch Fleisch. Fische sind auch Tiere.

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Es ist nämlich so: Wenn du jetzt Supermodel wärst und dir zum Mittagessen Orangensaft und 50 Gramm Watte ordern würdest, dann würde das keine Sau interessieren. Wahrscheinlich könntest du dir auch bei jeder Gelegenheit schon zur Vorspeise eine halbe Flasche Beaujolais reinstellen, ohne dass irgendwer am Tisch das Besteck beiseite legte, sich mit der Serviette über den Mund führe und fragte: Warum bist du eigentlich Alkoholiker, mein Lieber?

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Aber wenn man als Mann, dem man wegen so einer gewissen Durstigkeit im Blick offenbar das Morgenweizen eher zutraut als fleischlose Ernährung, ein Vegetarier ist – da bist du auch im Jahr 2020 der blutleere Sonderling, vor dem man seine Topfpflanzen oder heiratsfähigen Töchter besser in Sicherheit bringt. Stichwort: Hitler war ja auch Vegetarier. 

Endlich gibt es einer dieser eisenunterversorgten Karottisten zu!

 

Manchmal beginnt das leidige Gespräch erst, nachdem du zum dritten Mal innerhalb einer Woche Schlutzkrapfen gegessen hast. Besonders scharfen Beobachtern reicht hin und wieder auch, wenn du die Pommes vom Grillteller und das Gemüse vom Zander bestellst. Und dann geht es los.

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Anfangs hast du ja noch ernsthaft zu erklären versucht, warum du Vegetarier bist. Mittlerweile begründest du es nur mehr mit dem großartigen Gefühl moralischer Überlegenheit. Und wenn jemand gar keine Ruhe gibt, schießt du noch hinterher, dass ja Nahrungszufuhr an sich ein zutiefst faschistisches Konzept ist und du dich über weite Strecken bereits nur mehr von Licht und Use Your Illusion I und II von Guns’n’Roses ernährst.

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Spätestens in diesem Moment haut beim Gegenüber das Rechtfertigungsbedürfnis voll rein. Es ist dann immer viel von befreundeten Biobauern die Rede und von den Schweinen und Kühen, zu denen man eine ganz intensive Beziehung hat. So auf Taufpate und so weiter. Fleisch gibt es nur alle vier Wochen, vorausgesetzt die auf Tränenspuren untersuchte Einverständniserklärung des Schlachtviehs liegt vor. Und irgendwann ist dann der Zeitpunkt gekommen, wo das Veganer-Bashing beginnt, wie wir shitstormgestählten Influencer in unsere Buddha Bowls zu denglischen pflegen. Grundtenor: Syphilis geht ja noch, aber für die Beulenpest habe ich wirklich kein Verständnis.

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Und du nickst artig und gelobst den Verzehr von Eiern, Butter und Joghurt in nicht geringer Menge. Und wünscht dir in Wahrheit doch nur ein Stiegengeländer, an dem du dir deinen Eisenmangel weglecken kannst. Und einen Schäferhund.


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