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OKTOBER 2018

Essay

Gesichtszugsentgleisung

Ausdrucksstark war gestern.

M

an verlernt ja wahnsinnig viel im Alter. Schneidersitz oder nach zwölf ins Bett zu gehen zum Beispiel. Oder auch: mit verschwitztem Hemd in der Herbstsonne rasten und sich nicht vor schwerwiegenden gesundheitlichen Komplikationen fürchten. Solche Dinge. Was ich zum Beispiel aber auch nicht mehr kann: nur irgendwie halbwegs normal dreinschauen.

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Diese schon ein wenig nieder-schmetternde Erkenntnis ereilte mich, als ich kürzlich bei einer Festivität die zweifelhafte Ehre hatte, in einer Reihe vermeintlich unbeobachteter Momente fotografiert zu werden, und dann ein paar Tage später das noch fragwürdigere Vergnügen hinter mich bringen musste, die unheilvolle Allianz aus eiskaltem fotografischem Brutalismus und unbedarftem Mienenspiel in Augenschein zu nehmen. Man kann, ja man muss sagen: Ich beherrsche offenbar nur mehr drei Gesichtsausdrücke. Diese lauten: debil, hardcore-suizidal sowie „hochgradig abartigen Gedanken nachhängend“. Vor allem letzteres ist eine physiognomische Absonderlichkeit erster Güte. Sorte: Lustmolch hat Spaß mit sich selbst.

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Auf den nämlichen Fotos sieht das dann zum Beispiel folgendermaßen aus: Vorne unterhalten sich zwei bestens gelaunte Menschen und im Hintergrund steht einer, der sich offenbar jeden Moment in der Erdbeerbowle ertränken möchte – aber nicht so ausschaut, als ob er wüsste, wie er das anstellen soll. Oder: Fünf Leute genießen ihr Essen und einer sitzt gedankenverloren mit einem derart ordinären Grinsen dazwischen, dass man als Betrachter nachgerade erleichtert ist, wenn man nach einer Schrecksekunde realisiert: Gottseidank, er hat beide Hände am Tisch! Dabei wurden weder Heiße Liebe noch Stierhoden noch irgendeine andere gastronomische Anzüglichkeit serviert, die geeignet gewesen wäre, eine Erklärung für diese so was von schmierige Visage zu liefern. Es hat auch niemand Scheide gesagt oder so.

Innenleben und Außenwirkung haben sich entkoppelt.

Und ich habe ganz bestimmt keine unkeuschen Gedanken gehabt. Weil es war ja Freitag.

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Die Diagnose kann nur lauten: Gesichtszugsentgleisung. Offenbar haben sich Innenleben und Außenwirkung bei mir entkoppelt. Inwendig hopse ich fröhlich durch die Gänge, herze Hundewelpen und rücke allerorts ausgelassen prächtige Blumensträuße zurecht, von außen aber ist von Jux und Tollerei nichts zu sehen, eher im Gegenteil. Multiplizieren Sie das Gesicht, das Sie beim Gedanken an Blutwurst mit Graukäse oder an Ihr persönliches Nemesisgericht machen, mit der Miene, die ein Fünfjähriger aufsetzt, wenn die Hüpfburg geschlossen hat, und Sie bekommen in etwa eine Vorstellung davon, wie ich aussehe, wenn ich entspannt eine Konver-sation verfolge.

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Man muss sagen: Es grenzt also an ein Wunder, dass überhaupt noch jemand mit mir spricht. Und so stehe ich an dieser Stelle auch nicht an, mich einmal bei allen Menschen zu bedanken, die noch mit mir kommunizieren. Ihr seid spitze, liebe Damen und Herren gesprächspartnerseitig!

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Zugleich wird mir jetzt aber auch bewusst, dass nun endlich das Rätsel gelöst sein dürfte, warum ich grundsätzlich keine schlechten Nachrichten, private Probleme und dergleichen anvertraut bekomme. Nicht selten kommt es vor, dass ich mich mit jemandem auf einen Kaffee oder eine Flasche Weinbrand treffe, und was muss ich am nächsten Tag aus der Zeitung erfahren? Der Ärmste hatte bei der Anreise einen doppelten Überschlag mit dem Mopedauto! Dank meines leidenden Ausdrucks kurz vor Absterbens Amen wollte mir der Menschenfreund aber die schwerverdauliche Botschaft aus Rücksichtnahme ersparen.

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Und da bin ich dann also fast ein bisschen gerührt. Auch wenn man es natürlich nicht sieht. 

 

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