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AUGUST 2015

Essay

Beziehungsarchäologie

Oder Zu Besuch bei den Schmid-Meyers

L

assen Sie die Schuhe ruhig an, wenn Sie einmal beim Ehepaar Schmid-Meyer eingeladen sind. Nicht dass es besonders wahrscheinlich wäre, dass Sie den Schmid-Meyers in der Elisabethstraße 112, vierter Stock – bitte unten einmal klingeln, oben zweimal – irgendwann einmal Ihre Aufwartung machen. Aber trotzdem möchte ich es gesagt haben: Hier höflicherweise das Schuhwerk auszuziehen, wäre keine gute Idee. Wirklich nicht.

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Ulrike und Dieter Schmid-Meyer sind nette Leute und äußerst zuvorkommende Gastgeber mit einem Faible für Rotweine, die so teuer sind, dass man sie meiner Ansicht nach nur in homöopathischen Dosen trinken sollte. Nur: Sie streiten sehr gern. Und wenn ich gern schreibe, dann meine ich auch gern. Im Sinn von oft, um nicht zu sagen: fast ständig. Und sehr heftig, im Sinn von: dass die Fetzen fliegen.   
Ja, Mensch, das ist doch ganz normal, wenden Sie jetzt vielleicht ein. In einer Ehe kann nicht immer nur alles Eitelwonne sein, hin und wieder muss es auch krachen. Reinigendes Gewitter und so weiter.
Das ist zweifellos so. Die Schmid-Meyers sind allerdings nicht nur ein kongeniales Duo, wenn es ums Streiten geht, sondern ergänzen sich auch in ihrer Sturheit prächtig. Eher gibt ein Stahlträger im besten Alter nach, als dass einer der beiden Heißsporne von seinem Standpunkt abrückt.

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Und wissen Sie, wie sie denselbigen vorzugsweise untermauern?    
Sie werfen Gegenstände. Und wenn ich werfen schreibe, dann meine ich auch werfen. Im Sinn von schleudern, schmeißen, schmettern, feuern, pfeffern, katapultieren.

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Und wissen Sie, was sie mit den zerdepperten Gläsern, Tellern und Vasen, mit den zertrümmerten Fernbedienungen, Schnurlostelefonen und Bilderrahmen machen?

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Sie lassen sie einfach liegen.

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Ulrike Schmid-Meyer sagt: »Soll Dieter doch aufräumen.«

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Dieter Schmid-Meyer sagt: »Soll Ulrike doch wegmachen.«

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Und beide sagen sie: »Das wäre ja noch 
schöner.«

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Die gute Nachricht lautet: Das Ehepaar Schmid-Meyer hat keine Kinder. Die schlechte: Es gab da einmal eine Katze.
Ob die von einem Querschläger getroffen wurde oder in die Salatschüssel-Überreste im Badezimmer geraten und darin verblutet ist – man weiß es nicht.

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Historisch verbrieft ist allerdings, dass sich Dieters Bruder im Sommer einmal einen von Ulrike aus Protest ins Arbeitszimmer geworfenen Vier-Karat-Ohrstecker eingetreten hat. Schwerer wog freilich noch die klaffende Schnittwunde am großen Zeh, die sich der Ärmste auf der Suche nach einer Pinzette dann an einem zerbrochenen Handspiegel zuzog. Man kann sagen: Barfuß gehen, Kurzsichtigkeit oder eine allgemeine Unbekümmertheit in den Laufwegen führen praktisch unweigerlich zu Verletzungen.

„Die Schmid-Meyers sind nicht nur ein kongeniales Duo, wenn es ums Streiten geht, sondern ergänzen sich auch in ihrer Sturheit prächtig.“

Wissen Sie was? Es ist gar nicht lange her, da war ich bei den Schmid-Meyers zu Gast. Besuchszeit, Sonntagnachmittag. Beim Raufgehen überlegte ich, ob man mich eher für gierig oder für einen Trinker oder beides halten würde, wenn ich nach einem Glas Wein verlangte. Nein, sagte ich mir, nicht meine Schmid-Meyers. Und vergnügt nahm ich zwei Stufen auf einmal.

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Oben angekommen, war es mit der Ausgelassenheit mit einem Schlag vorbei. Schon der Boden im Vorraum war von einer feinen Schicht aus zerborstenem Porzellan und Glas bedeckt. Die Splitter knirschten unter meinen Schuhen wie Kies. Keine Frage, die Bodenbeschaffenheit hatte sich gegenüber meinem letzten Besuch eindeutig verschärft.

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Dieter saß am Wohnzimmertisch und rührte mechanisch in einer Tasse Tee. Ulrike, die sich an der Gegensprechanlage gemeldet hatte, war der Geräuschkulisse nach zu schließen schon wieder in der Küche verschwunden.

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Es duftete nach frischem Kuchen. Meine Vorfreude auf ein Stück dieser Köstlichkeit erstarb jedoch jäh, als ich ins Wohnzimmer trat. Ich wurde Zeuge, wie eine braune Masse in Zeitlupentempo von der Wand auf das Parkett rutschte, wo sie sich mit den dort bereits befindlichen Bestandteilen der Kreation zu einem Häuflein Elend verband. Die Schoko­glasur hatte am Weiß der Wand eine schmierige Spur in etwa von Kopfhöhe bis zum Boden hinterlassen.

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»Komme ich ungelegen?«, fragte ich Dieter.

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»Wir haben Konfekt aus Italien.« Er stand auf und ging zu einer Stellage. Seine Clogs klackerten am Fußboden. Forschend führte er die Hand dem Regal entlang, doch was er suchte, schien nicht an seinem Platz zu sein. Er drehte sich um. Ich folgte Dieters Blick durch den Raum, bis dieser auf einem Scherbenhaufen verharrte. Mit ein bisschen Fantasie konnte man darin Pralinen oder was davon übrig geblieben war erkennen.

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»Wir haben kein Konfekt aus Italien«, murmelte Dieter achselzuckend und nahm, begleitet vom Kastagnettenensemble, wieder am Esstisch Platz.

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Während der nächsten zwei Stunden, die ich bei den Schmid-Meyers in leicht angespannter Atmosphäre verbringen durfte – es gab Joghurt mit Früchten, zum Glück in Schälchen serviert, und einen hervorragenden Rotwein, dankenswerterweise ebenfalls in konventioneller Darreichungsform zur Verfügung gestellt –, führte ich unter Vorschützung fortgeschrittener Inkontinenz eine unauffällige Bestandsaufnahme der ehelichen Konfrontationsrelikte durch. Fast hätte mich Ulrike bei einer meiner Erkundungstouren erwischt. Doch ich konnte den Einfall ins Schlafzimmer auf mangelhaften Orientierungssinn und meine Alkoholisierung schieben.

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Grob geschätzt lagern in der Wohnung 70 Kilogramm bodennahes Glas und Porzellan in den unterschiedlichsten Stadien der Zertrümmerung. Die Zahl herrenloser, höchstwahrscheinlich defekter Elektrokleingeräte kratzt an der Zweistelligkeit, wobei mir insbesondere ein offenbar an einem Bücherbord zerschellter Stabmixer zu denken gibt. Einem Kunstfreund würde wahrscheinlich wiederum das am Kleiderständer aufgespießte Ölgemälde im Vorzimmer zu schaffen machen. Der darauf verewigten Dame scheint nun ein Hirschgeweih aus dem üppig belockten Kopf zu wachsen.

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Auch verschiedene Lebensmittel haben abhängig von ihren Flug- und Aufpralleigenschaften Spuren hinterlassen. Vor allem an den Wänden. Hier ist sicherlich die verheerende Wirkung von Saucen aller Art hervorzuheben beziehungsweise die Durchschlagskraft diverser Öbster, welche einer Gipskartonwand wirklich arg zusetzen können.

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Wir merken uns: Es muss also nicht immer eine Schere sein, die man in die Rigipsplatte rammt. Zumal bei Schmidt-Meyers schon eine bis zum Anschlag in der Ledercouch steckt.

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Aber ich denke, hier ist nicht der Ort, um strafrechtlich Relevantes zu verhandeln. Und eigentlich kann Ihnen das ja sowieso egal sein. Solange Sie die Schuhe anlassen!

 

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