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JULI 2014

URBAN EXPLORER

Die Schönheit des Verlassenen

Sie erkunden, erforschen, dokumentieren und bewahren: Urban Explorer, wie sie sich selbst nennen, sind stetig auf der Suche nach Orten, an denen keiner mehr ist

Die Schönheit des Verlassenen

Aufgegeben. Eine Wohnung in einem Gebäude, das vor 20 Jahren verlassen wurde. Mittlerweile ist das Haus einsturzgefährdet und soll bald abgerissen werden.

Die Schönheit des Verlassenen
Die Schönheit des Verlassenen
Die Schönheit des Verlassenen
Die Schönheit des Verlassenen
Die Schönheit des Verlassenen

Erinnerungen. Die Puppe eines Kindes aus einer Arbeiterfamilie blieb nach der Auflassung der Fabrik und der dazugehörigen Wohnsiedlung 1975 zurück.

Die Schönheit des Verlassenen
Die Schönheit des Verlassenen
Die Schönheit des Verlassenen
Die Schönheit des Verlassenen
Die Schönheit des Verlassenen

Menschenleer. Mit dem Tod der Besitzer hält vor allem in Gebäuden am Stadtrand oft der Verfall Einzug.

Die Schönheit des Verlassenen
Die Schönheit des Verlassenen
Die Schönheit des Verlassenen
Die Schönheit des Verlassenen

Zurückgelassen. Ehemalige Dienstwohnung eines Hotelangestellten: Geschirr noch in den Schränken und 25 Jahre alte Zigarettenstummel im Aschenbecher.

Die Schönheit des Verlassenen
Die Schönheit des Verlassenen
Die Schönheit des Verlassenen
Die Schönheit des Verlassenen
Die Schönheit des Verlassenen

Industrieästhetik. Kondenswasser benetzt ein Telefon in einem Werksbahntunnel: Tropfen von den Wänden und der Decke beginnen schon nach einigen Jahren, eine Kalkkruste zu formen.

„Beim urban exploring geht es nicht zuletzt um Menschen – um Menschen, die nicht mehr da sind.“

R

. ist 19 Jahre alt. Vor einem Jahr hat sie etwas Neues für sich entdeckt: Das Gefühl, dort zu sein, wo niemand ist. Sie fand durch Zufall einen unverschlossenen Weg in ein aufgelassenes Lokal am Rande von Innsbruck. Getrieben von Neugierde, die größer war als die Angst, erwischt zu werden, wagte sie es, die verlassenen Räume zu erkunden.

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Hinter der unverschlossenen Türe eröffnete sich ihr eine völlig neue Welt, wie sie erzählt: „Natürlich war es aufregend und auch irgendwie gruselig, die düsteren Räume zu erkunden. Aber mindestens genauso einprägsam war, wie ruhig es war.“ Mit der Totenstille kam ein besonderes Gefühl: „So allein kann man im Alltag niemals sein. Diese Form von Einsamkeit erlaubt es, sich unheimlich frei zu fühlen. Dann bin ich an einem Ort, von dessen Existenz die meisten nicht einmal wissen. Und niemand weiß, dass ich dort bin. Es ist, als hätte man die Welt, in der man lebt, verlassen.“

Die Sucht zu entdecken.

Dieses Erlebnis war für R. erst der Anfang. Neugierig auf mehr, begann sie das Internet nach verlassenen Gebäuden zu durchforsten – und wurde schnell fündig. Aber ihre Recherche förderte noch etwas zutage: Sie war mit ihrer Leidenschaft nicht alleine. Auf der ganzen Welt gibt es Personen und Gruppen, die sich als „Urban Explorer“ bezeichnen: Erforscher des städtischen Raums.

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„Ein Großteil der Kommunikation läuft über das Web ab“, erklärt R., die inzwischen einen Blog führt. „Wir tauschen uns aus, suchen Orte und geben uns gegenseitig Tipps. So erfahren wir, wie man am besten einen Weg in das Objekt findet, was es zu sehen gibt und worauf man aufpassen muss.“ Inzwischen hat sie ein geschultes Auge entwickelt.

Leere Fenster, verwilderte Gärten oder eingeschlagene Scheiben sind Indizien für verlassene Bauten. Sicher zu gehen, dass man nicht in ein bewohntes Gebäude eindringt, steht dabei an erster Stelle. „Wir sind keine Einbrecher“, distanziert sie sich. Nicht zuletzt deswegen gilt für sie auch eine zweite unverrückbare Regel: „Ich zerstöre und verändere nichts. Weder beim Weg hinein noch an dem Ort selbst.“ Denn ihr, so wie dem Rest der Community, ist es wichtig, zu bewahren. „Verlassene Orte haben eine eigene Ästhetik“, erklärt sie. „Es tut jedes Mal weh, ein Objekt zu erkunden und die Spuren von sinnlosem Vandalismus zu entdecken.“

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Inzwischen ist R. mehrmals pro Monat unterwegs. Ihr Motiv ist, wie sie selbst sagt, der kindliche Trieb, den viele von uns bereits verlernt haben: die Neugierde, jeden Winkel zu erforschen und hinter jede Türe blicken zu wollen. Ihre Ausflüge beschränken sich schon lange nicht mehr auf den Innsbrucker Raum. Auch alte Fabrikgelände außerhalb der Stadt und nicht zuletzt militärische Anlagen aus den Weltkriegen haben es ihr angetan. „Man würde gar nicht meinen, wie viel verlassene Objekte es in Tirol noch gibt“, erzählt sie. „Selbst in Innsbruck entdecke ich immer wieder neue Orte. Und das, obwohl man meinen würde, dass gerade in einem Ballungsraum jeder Quadratmeter genutzt wird.“

Bewahren statt zerstören.

Zum Entdecken gehört für die meisten Urban Explorer auch die Dokumentation, wie G. erklärt. Viele von ihnen sind Hobbyfotografen. Gestellte Bilder sind für die meisten von ihnen tabu. „Mein Ziel ist es, den Status quo festzuhalten und mein eigenes Erleben zu dokumentieren. Deswegen verzichte ich, so weit es

„Für mich ist es eine Möglichkeit, die Geschichte hautnah zu erfahren.“

Eine Geschichte des Kleinen.

Für T., eine weitere Urban Explorerin, stehen vor allem Spuren des täglichen Lebens im Vordergrund. „Wir haben die einmalige Möglichkeit, Personen, die nicht mehr da sind, in die Gegenwart zu holen“, erklärt sie ihren Zugang zum Urban Exploring. Auch wenn die Gebäude, in die sie sich wagt, verlassen sind, nimmt sie sie lange nicht als tot wahr – ganz im Gegenteil. „Der Raum lebt weiter, auch wenn die ehemaligen Nutzer ihn schon lange verlassen haben“, erklärt sie. „Man entdeckt immer wieder Einzelheiten. Einen zurückgelassenen Kaffeelöffel, einen Topf, der noch am Herd steht. Das alles erzählt eine Geschichte.“ Für sie gibt es nichts Spannenderes, als diese zu entdecken und daraus das Puzzle der Vergangenheit zusammenzusetzen.

Aufmerksam und Achtsam.

Sowohl N. als auch T. sehen es beinahe als ihre Pflicht an, die Stadt anders wahrzunehmen. „Urban Explorer entwickeln einen Blick für die Details, die sonst übersehen werden. Wir nehmen die Stadt anders war. Und alleine durch das Sehen von Dingen, an denen andere vorbeigehen, würdigen wir etwas, das sonst verloren ginge“, meint T. Auch wenn sie bei ihren Erkundungen in den Lebensraum anderer eindringt, hat sie kein schlechtes Gewissen. „Wir haben Respekt vor der Geschichte der Objekte, die wir erkunden“, meint sie. „Und durch unsere Beobachtungen und nicht zuletzt durch die Fotos, die wir machen, bewahren wir die Seele der Gebäude, in denen wir unterwegs sind.“

Die Eingeweide der Stadt.

So hat jeder Urban Explorer ein anderes Motiv, das er verfolgt. M., der selbst seit Jahren Touren unternimmt, hat es vor allem der Blick hinter die Kulissen angetan. „Für mich ist es eine Möglichkeit, der Stadt beim Wachsen zuzusehen und ihre Geschichte hautnah zu erfahren“, erzählt er. Urban Exploring beginnt für ihn schon im Kleinen. „Man kann bei einem einfachen Spaziergang Spuren dessen entdecken, was von der Stadt ‚überwuchert’ wurde“, beschreibt er. Einige besonders breite Straßenzüge, wie man sie zum Beispiel im Saggen findet, verraten, wo früher Straßenbahnlinien verlaufen sind. Und mit dem einen oder anderen Blick nach oben lassen sich verräterische Haken in Häuserfassaden entdecken. Sie markieren den Verlauf der Oberleitungen längst nicht mehr existierender O-Bus-Linien. Doch die wahren Schätze findet auch M. dort, wo normalerweise niemand Zutritt hat.

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„Jede Stadt besteht aus viel mehr als dem, was den Bewohnern bewusst ist“, erzählt er. So liegen unter dem Innrain zum Beispiel kilometerlange Versorgungstunnel verborgen, die er schon erkunden durfte – in diesem Fall sogar mit Erlaubnis. „Bei Anlagen, die in Betrieb sind, fällt es oft relativ leicht, eine Genehmigung für eine Besichtigung zu erhalten“, meint er. „Bei aufgelassenen Gebäuden ist das meistens schwieriger – nicht zuletzt, weil es schlichtweg niemanden interessiert.“ Deswegen wählt er ebenso wie viele andere Urban Explorer oft den weniger legalen Weg.