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FEBER 2019

Editorial

Über Extremismus im Organismus

F

ür die Nachkriegsgeneration muss sich unsere Gegenwart schon komisch anfühlen. Kannte sie selbst noch Gefühle wie Hunger und Existenzangst, ist sie nur ein paar Jahrzehnte später mit dem totalen Gegenteil konfrontiert: Konsum ist zum Hobby geworden, Überfluss zum Alltag. Wie es sich für eine ordentliche Pendelbewegung gehört, sind wir wohl am anderen Ende des Extrems angekommen.

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Und so muss sich der halbwegs aufgeklärte Geist tagtäglich damit beschäftigen, wie er dem entkommt. Was tun, wenn man nur eine Packung Reis möchte, aber eine zweite dazugeschenkt bekommt? Wie reagieren, wenn man ein schwarzes T-Shirt braucht, aber drei Stück nur das Doppelte kosten? Die Entwicklung, die unsere Welt in den letzten Jahrzehnten durchgemacht hat, ist durchaus bedenklich. Mit einem Wirtschaftssystem, das auf ständigem Wachstum basiert, werden wir Menschen angehalten, immer mehr zu kaufen, immer mehr zu konsumieren. Anstatt hochwertige Anschaffungen zu tätigen, die lange Zeit überdauern, und vieles im Kollektiv zu teilen, das man nur selten braucht, wird vor allem günstig und viel eingekauft. Und so quillen Kleiderschränke, Kosmetikschubladen, Keller und Spielzimmer vor Billigschrott über, und immer noch besitzt jeder seine eigene Bohrmaschine, obwohl er sie nur einmal im Jahr braucht. Man kann hier inzwischen fast von Suchtverhalten, in jedem Fall von Freizeitgestaltung sprechen. Kaufen ist das neue Unternehmen, Konsum das neue Megahobby.

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Noch anstrengender als dieses Extrem ist nur die Gegenbewegung dazu. Richtig ausmisten, Ordnung in sein Leben bringen, mehr Struktur und Disziplin im Alltag – das sind die Schlagworte, die zur Zeit in keinem Magazin und in keinem Streamingdienst fehlen dürfen. Der ganze Krempel, den wir uns ständig anschaffen, muss jetzt schleunigst wieder weg – sonst ist ein glückliches Leben quasi nicht möglich. Und so werden Keller entrümpelt, Kleiderkästen neu eingeräumt und – im Idealfall – Neuanschaffungen besser durchdacht. Wer das Ganze richtig machen will, fängt damit zwar beim eigenen Wohnraum an, hört aber nicht dort auf. Und so verzichten wir dann noch auf zu viel Kohlenhydrate, Alkohol, Süßes, rauchen sowieso nicht mehr, achten auf den biologischen Fußabdruck unseres Schnitzels und reisen sogar mal mit der Bahn an. Alles wichtig und sicher richtig – aber megamühsam. Immerhin beschäftigt man sich somit nur den ganzen Tag damit, was man nicht darf. Die ständige Konfrontation mit dem Verzicht steht im Vordergrund und während so mancher Mönch und so manch eine Nonne stolz auf einen wäre, muss man selbst aufpassen, dass man die Lebensfreude entweder nicht verliert oder zumindest teilweise auch im Verzicht findet.

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Und die Moral von der Geschicht: Das Leben ohne Extrem wäre der beste Verzicht.

 

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