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DEZEMBER 2018

Essay

Pharmagoragnosie

Ein schwieriges Wort für eine schwere Störung

W

as ich über die Jahre gelernt habe, ist ja, dass einem die Menschen bei Selbstkritik viel eher gewogen sind als bei Eigenlob. Selbst wenn einer, sagen wir, jetzt wirklich den besten Glühwein Mitteleuropas zuzubereiten in der Lage wäre, was keine große, aber doch eine freudenspendende Kunst ist, er also mit Recht auf seine herausragenden Fertigkeiten in der nochmaligen Verhunzung von ohnehin schon fragwürdigem Traubensafte hinweisen könnte, würden ihm die Herzen nur bedingt zufliegen. Weil die Menschen keine Angeber mögen, selbst wenn sie fett sind vom Glühwein. Aber den sympathischen Verlierer, den lieben sie. 

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Es wird aus diesem Grund jetzt wenig überraschen, dass ich mich im Folgenden wieder einmal mit einer kolossalen Selbstbezichtigung ausbreiten werde, die hoffentlich geeignet ist, bei möglichst vielen Leuten entsprechend empathische Reaktionen auszulösen. Weil es ist ja bald Weihnachten. Und ich hab’s sowieso nötig. So, um es kurz zu machen: Ich bin drogerieblind.

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Zur Erklärung lassen Sie mich bitte etwas ausholen. Vielleicht haben Sie schon einmal von Prosopagnosie gehört. Falls dem so ist, können Sie die nächsten 20 Zeilen überspringen und sich begleitend sehr gescheit vorkommen. Allen anderen sei gesagt: Die Prosop­agnosie ist eine visuelle Störung, bei der Betroffene Gesichter nicht erkennen beziehungsweise unterscheiden können, weshalb man das Phänomen, gekonnt aus dem Altgriechischen übertragend, zu deutsch auch als Gesichtsblindheit bezeichnet.

Der Kauf eines Deodorants gerät zum halbstündigen Abenteuer.

 

Heißt konkret: Stellen Sie sich vor, alle ihre Freunde und Bekannten sind plötzlich Chinesen und sehen folgerichtig alle gleich aus. Für den Fall, dass Sie jetzt selbst Chinese sind und/oder einen überwiegend mit Herrschaften aus dem Reich der Mitte bestückten Freundeskreis haben, also in der Chinesenerkennung geschult sind, oder das nämliche Beispiel wahnsinnig deppert finden, weil Koreaner zum Beispiel ja auch alle gleich aussehen oder weil diese Asiatenagnostik so befremdlich ist wie 17-Euro-Skischuhe von AliExpress und verboten gehört, kann ich ad hoc auch nichts machen. Entschuldigung. Zumal ich den anstrengenden Gscheitlöchern oben ja einen Wiedereinstieg nach 20 Zeilen versprochen habe. 

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Es freut mich außerordentlich, auch meine Elite­leser wieder im Text begrüßen zu können: Herzlich willkommen zurück! Ich bin also drogerieblind. Oder wie Neurologen, sobald ich es mit meiner Störung in ein Fachjournal gebracht haben werde, vielleicht schon demnächst in ihr Diktaphon husten werden: Der Patient leidet an schwerer Pharmagoragnosie. Soll heißen: Wenn ich einen Drogeriemarkt betrete, sieht für mich alles gleich aus. Regale über Regale mit komplett identen Produkten, unterbrochen nur von ein paar kleinen Lichtblicken wie Klopapier oder gesundheitspolitisch korrekten Getränken.  

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Entsprechend hilf- und orientierungslos stolpere ich durch die Gänge. Ja, da schmunzelt selbst der Bangkok-Tourist. Der Kauf eines Deodorants gerät für mich rasch zu einem halbstündigen Abenteuer, da ich mehr oder weniger jeden einzelnen Regalmeter nach der elenden Achselsprühe absuchen muss. Ganz schlimm sind auf Grund der absurden Produktvielfalt, die sich freilich in keiner Weise positiv auf die Erkennungsleistung meinerseits auswirkt, auch Duschgels und Haarshampoos. 

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Mittlerweile habe ich mir einige Bewältigungsstrategien angeeignet. Dazu zählen: zuallererst natürlich das auch gerade bei Neurotikern beliebte Vermeidungsverhalten. Außerdem Überredungskunst, Stichwort: Bitte nimm mir die Creme mit, ich fleh dich an! Sowie die Orientierung an Farbtönen, eine Technik, die ich der Bienenhaltung entlehnt habe: Tendiert ein Regal vom Gesamteindruck her Richtung Dunkelblau, stehen die Chancen gut, dass dort Männer-Produkte zu finden sind.

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Und das ist prima. Weil vom Rasierschaum zum Deo sind es dann nur mehr zehn Minuten.

 

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