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NOVEMBER 2016

Essay

Dichtung und Wahrheit

Das Liebesgedicht erfreut sich ungebrochen großer Beliebheit. Wenigstens bei den Empfängern.

D

ie Hersteller gedichteter Zuneigungsbekundungen erleben häufig eine Achterbahn der Gefühle, hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen, mit einem Poem aus eigener Feder tiefste Hingabe zum Ausdruck zu bringen, und der ernüchternden Erkenntnis, dass sich die dichterischen Fähigkeiten maximal für die Fabrikation eines ungelenken Zweizeilers heranziehen lassen, der wo sich dann nicht einmal gescheit reimen tut.

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Verschärft wird die Situation meist noch dadurch, dass es sich bei dem verhinderten Urheber in neun von zehn Fällen um ein nur bedingt empfindsames, ausdrucksschwaches und für diese Aufgabe gänzlich ungeeignetes Gemüt von kolossaler Simplizität handelt. Kurz: einen Mann.

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Soll heißen: Eben noch hat man sich darüber gefreut, erst nach dem dritten Hefeweizen aufs Klo gemusst zu haben, schon soll man all seine Emotionen für eine Frau in Sätze voller Zärtlichkeit und Anmut gießen. In der Praxis bekommt der Berater dann von verzweifelten Klienten oft Dinge zu hören wie: „Aber meine Gefühle reichen nur für drei Zeilen“, „Ist ›Ich liebe dich‹ nicht auch ein Gedicht irgendwie?“ oder: „Was reimt sich auf ›Ich weiß gar nicht, was du immer hast, du undankbare Schlampe‹?“

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Warum aber überhaupt Lyrik? So einfach die Frage, so simpel lässt sie sich auch beantworten und zugleich der damit verbundene Hintergedanke zerstreuen, am Ende ohne all das Kopfzerbrechen auskommen zu können, indem man sich auf die Abfassung eines Gedichtssurrogats in schlichter Prosa verlegt. Es ist einfach nicht dasselbe. Erst die Mühewaltung, die in selbstgedrechselten Versen steckt, verleiht dem Gedicht das von Frauen auf der ganzen Welt so geschätzte gewisse Extra.

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Aber was ist Lyrik überhaupt, fragen Sie? Lyrik ist die Idee, den Inhalt der Form zu unterwerfen, weil normal wäre ja leicht. Normal ist übrigens auch beim Dichten selbst unbedingt zu vermeiden. Viele Erst- oder Gelegenheitsdichter begehen den Fehler, sich sofort an die Arbeit zu machen, ist der Entschluss, eine Liebeserklärung zu reimen, einmal gefasst.

„Aber meine Gefühle reichen nur für drei Zeilen.“

 

So viel Naivität wird in der Regel gnadenlos bestraft. Denn nichts verzeiht das leere, für die Niederschrift eines Gedichts gedachte Blatt Papier weniger als fehlende Vorbereitung. Ob man zur Flasche greift oder sich Härteres reinpfeift, hängt natürlich von den persönlichen Vorlieben ab.

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So weit so gut, aber worüber soll man nun dichten? Ein häufig auftretendes Problem besteht darin, dass der noch jungfräuliche Dichter krampfhaft nach einem Thema für sein Elaborat sucht. Dabei hat er doch schon längst eines: Es ist selbstredend die grenzenlose, hingebungsvolle Liebe zu seiner Angebeteten!

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Freilich klingt ein solches Ansinnen leichter als es tatsächlich ist. Unerfahrene Poeten können sich behelfen, indem sie eine Liste mit den Vorzügen der Adressatin (humorvoll, nettes Gesicht, super Brüste) erstellen, welche dann nach und nach in das Gedicht eingearbeitet werden. Aber Achtung: Gerade Begriffe wie etwa Warzenvorhof mögen zwar ein sexueller Schlüsselreiz sein und damit dem Unbedarften im Rahmen einer erotoiden Sprachkomposition als besonders passend erscheinen, doch sind sie aus poetischer Sicht nur schwierig zu handhaben.

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Bleibt die Frage: Wie vortragen? Der letzte Vers ist gezimmert. Jetzt noch schnell in Reinschrift gebracht, drei Herzchen draufgeklebt und ab zur Post damit? Mitnichten! Sich hier für eine postalische Zustellung zu entscheiden würde den Erfolg des Unternehmens massiv gefährden. Lyrik lebt vom Vortrag. Zwei Möglichkeiten bieten sich hierbei an. Erstens: Das Gedicht wird vorgelesen. Wenn man so will, die Sicherheitsvariante. Zweitens: Das Gedicht wird auswendig rezitiert. Experten raten dringend zu Variante zwei, da damit am nachhaltigsten gepunktet werden kann. Freilich mit einer Einschränkung: Auf die Nutzung von PowerPoint sollte unbedingt verzichtet werden.