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MÄRZ 2018

Essay

Extrawurst

Anmerkungen zu einem antiken Irrtum.

U

nlängst las ich einen Satz, der mir zu denken gab. Er lautete: Wurst ist ein schlechter Antrieb. Mehr noch als der Inhalt aber, der doch sehr nach fragwürdigen, von mir zum Behufe der Veranschaulichung jetzt ja wirklich bloß schnell hinerfundenen Weisheiten wie „Schinken trägt selten reiche Früchte“ oder „Milch kann doch keinen Freund ersetzen“ klang, erstaunte mich die Urheberschaft. Es handelte sich immerhin um keinen Geringeren als Lucius Annaeus Seneca, meine sehr verehrten Damen und Herren am anderen Ende dieser noch immer stramm winterlichen Kommunikationseinbahn, seines Zeichens antiker Philosoph, Erzieher Kaiser Neros und sonst auch wichtig. Noch heute werden im Latein-unterricht diverse Episteln und ähnlicher Kram dieses berühmten Stoikers behandelt, was aber eigentlich niemanden freut – außer hoffnungslose Strebernaturen und Senecas letzte lebende Nachkommin, die 87-jährige Fletje Senecker aus Brügge, die sich immer noch scheckig lacht über die Millionen an Tantiemen, die sie Jahr für Jahr erhält.

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Jedenfalls: Wurst ist ein schlechter Antrieb. Ich wollte schon mit der Verarbeitung dieser Information beginnen, um sie möglichst rasch in eine Überprüfung der sich für meinen weiteren Lebensweg ergebenden Implikationen zu überführen, als ich halt doch noch einmal einen Blick zurück auf das Gelesene warf. Hier muss ich nun Folgendes vorausschicken: Entgegen aller Usancen des Humor- und Unterhaltungsbetriebs werde ich Sie umgehend mit einer Information versorgen und diese nicht aus Gründen hinterfotziger Spannungsbogengestaltung zurückhalten, nur um in etwa einer Minute ab jetzt eine hübsche Schlusspointe zu haben. Es ist nämlich so: Da stand überhaupt nicht, Wurst ist ein schlechter Antrieb. Da stand: Wut ist ein schlechter Antrieb.

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Wie langweilig, sagen Sie? Ja, genau, das dachte ich auch. Maximal Kalenderspruchniveau, so à la „Schwäche ist die Stärke der Kraftlosen“.

Milch kann doch keinen Freund ersetzen.

 

Oder: „Durchfall ist kein guter Ratgeber.“ Sie können sich meine Enttäuschung vorstellen, als ich Senecas Irrtum bemerkte.

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Ernüchtert von so viel intellektueller Uninspiriertheit, ja man möchte fast sagen: empört ob der philosophischen Arbeitsverweigerung, wollte ich mich wieder meinen eigenen Problemen widmen, als mir plötzlich ein Gedanke kam: Du könntest, sagte ich mir, doch zumindest in deinem Philosophielexikon die Stoiker nachlesen. Eine Jahrhundertchance! Die „Geschichte der Philosophie“ in zwei Bänden befand sich unangetastet in meinem Besitz, seit ich sie Mitte der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts aus einem Wühltisch bei Libro gefischt und zu einem dem Denkergewerbe eher abträglichen Preis erstanden hatte. Ich also so auf Professor. Während die Zunutzemachung des Inhaltsverzeichnis noch reibungslos vonstatten ging, folgte die nächste Ernüchterung gleich am Fuße: 28 dichtest bedruckte Seiten, in einem Schriftgrad von derart fußnotenhafter Anmutung, dass ich nach dem eigentlichen Fließtext suchte; augenreizendes Alt-Griechisch in Klammern – mit einem Wort: ein einziges geballtes Argument für Wikipedia.

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Ich also so auf Student. Es dauerte nur wenige Augenblicke des Überfliegens, wobei ich hinzufügen möchte, dass ich entgegen der studentischen Gepflogenheiten auf das gleichzeitige Hantieren am Mobiltelefon verzichtete, und schon wurde ich fündig: Der Stoiker, erläuterte mir der anonyme Autor, versuche seinen Platz in der Welt zu finden, „indem er durch die Einübung emotionaler Selbstbeherrschung sein Los zu akzeptieren lernt und mit Hilfe von Gelassenheit und Seelenruhe nach Weisheit strebt“.

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Also wenn Sie mich fragen, heißt das: Dem Stoiker ist alles wurscht. Na also. Quot erat demonstrandum, Luci. 

 

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