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NOVEMBER 2018

Essay

Der Ausführeffekt

Oder Theorie und Praxis

S

ie müssen wissen, schon immer wollte ich einen Text mit einem berühmten ersten Satz der Weltliteratur anfangen. Zum Beispiel mit: Commissario Brunetti nippte nachdenklich an seinem Espresso. Dass das jetzt ausgerechnet in einer Zeit klappt, in der die Tage bedenklich kurz werden und das Grau in Grau sich anschickt, Herrschaft über das Gemüt zu erlangen, freut mich außerordentlich. Und so will ich diese kleine Herbstzeitlose von einer Kolumne nun endlich mit den berühmten Worten Max Frischs beginnen: Ich bin nicht Banksy! Ich arbeite nur ähnlich.

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Als Kunstfreunden sind Ihnen, verehrte Damen und Herren leserseitig, die spektakulären Ereignisse, die sich jüngst bei Sotheby’s London zugetragen, sicherlich in lebhaftester Erinnerung. Stichwort: das Bild und der Schredder. Das war aber einmal ein Oha und Oho, als das Exponat mit Mädchen und Luftballong zum Erstaunen der Anwesenden plötzlich in Streifen aus dem Rahmen quoll, der offenbar zum Behufe der ferngesteuerten Filetierung präpariert worden war.  

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Nicht wenige Kunstliebhaber aus aller Welt haben umgehend alle Bildnisse in den privatimen Gemächern kontrolliert, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass Ikea hier für 24,90 Euro pro Gemälde irgendwelche Aktenvernichter eingebaut hat. Aber wir wollen nicht auf dem Geschmack von Menschen herumhacken, die Kunst im Möbelhaus kaufen, sondern uns lieber dem Phantom im Kapuzenpullover zuwenden.  

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Dieser Banksy ist ja so irrsinnig beliebt. Jeder mag seine Arbeit. Wer Banksy vor kunstverständigem Publikum kritisiert, so nach dem Motto: Sich hinter einem depperten Pseudonym verstecken ist ja wohl das Letzte und Kapuzenpullis sind sowieso volle peinlich, begeht Rufselbstmord. Da kann man gleich Hitler für seinen Pinselduktus loben. Oder sich über die Bilder des eigenen Patenkinds lustig machen.

Ein Mindestmaß an schöpferischem Fortschritt

 

Es wird Sie, die Sie schlau zu kombinieren gewohnt sind, demnach nicht überraschen, wie großartig ich diesen Künstler finde. Mehr noch: Weil bei der Aktion neulich nur das halbe Bild geschreddert wurde, bin ich momentan regelrecht enthusiasmiert. Because that’s so me. Dass irgendetwas, das ich zusammengesetzt, -geschraubt, -gesteckt oder -geklebt habe, nicht richtig funktioniert, passiert mir nämlich auch ständig.   

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Insbesondere in heimischer Wirkungsstätte, zumal unter den gestrengen Blicken meiner Frau klappt eigentlich nie etwas wie geplant, so gut ich mir auch alles im Vorfeld überlegt habe. Klassisch Vorführeffekt, sagen Sie? Nun ja, Versuche ohne eheliches Publikum lassen mich leider auch die Existenz eines Ausführeffekts vermuten, dessen erstes und einziges Gesetz lautet: Was in der Theorie funktioniert, funkioniert niemals in der Praxis. Man muss sagen: Meine Frau nervt es, dass ich so ungeschickt bin. Ich entgegne dann: Ich bin so geboren, mein Schatz. Und wenn du ein guter Christenmensch bist, so verzeih mir einfach und höre dafür, was ich zur Unfertigkeit des Kunstwerks zu sagen habe. Weil Banksy ist ja mit seiner zerstörerischen Selbstattacke auch nicht ganz fertig geworden.

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Viele denken bei unvollendet an Franz Schubert beziehungsweise seine gleichnamige Sinfonie. Wenige an Franz Pospischils Fragment gebliebenen Versuch, an einem Freitagabend im Espresso Rosi zwei Flaschen Industrieobstler im Handstand zu vertilgen. Und niemand an meinen weitgehend unangefangenen Gedichtzyklus „Die Blumen des Blöden“.

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Unvollendet bedeutet schließlich ein Mindestmaß an schöpferischem Fortschritt, an signifikanter Näherung an einen des Ergänzens unbedürftigen Endzustand. Den durchaus vielversprechenden Anfangssatz „Die Hitze lag wie Blei über den Dächern Kematens“ als unvollendeten Roman zu bezeichnen, erscheint aus diesem Grunde mindestens gewagt. Was ja eigentlich sehr schade ist.

 

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