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SEPTEMBER 2015

Essay

Wir Grecogermanen

Es beginnt bei der (Un-)Pünktlichkeit und es endet nicht mit der Philosophie. Es interessiert die Eliten und es beschäftigt die Proleten. Es entzieht sich dem rationalen Verständnis und es erklärt sich kaum aus der emotionalen Beziehung: Nord-Süd, dieser kleinste gemeinsame Gegensatz der Welt, gerät immer mehr zur kürzesten Metapher für den Hindernislauf zu einem vereinten Europa.

W

erner Faymann mag nicht als großer Kanzler in die Geschichte der Zweiten Republik eingehen, doch keiner verkörpert besser die ewige Zerrissenheit des Kleinstaates an den Bruchlinien Europas. Wo Vorvorvorvorvorgänger Fred Sinowatz noch ganz allgemein „Es ist alles sehr kompliziert“ postuliert hat, äußert sich sein Nachnachnachnachnachfolger total konkret: „Es führt kein Weg an einer Lösung vorbei. Wir haben sie noch nicht.“ Der erste EU-Regierungschef, der Griechenland nach dem dortigen Machtwechsel besucht, hat davor bereits viele rote Duftmarken von klammheimlicher Sympathie mit der neuen Linken im tiefen Süden gesetzt. So viel Ideologie war hier schon lange nicht. Aber nur kurz. Das rasch enttäuschte Liebeswerben samt Kehrtwendung auf die stramm deutsche Linie ist keine andere Geschichte, sondern typisch für den Balanceakt bzw. Schlingerkurs von Österreich II.

Rinks und lechts lässt sich dabei frei nach Ernst Jandl leicht velwechsern. Während heute das rote Utopia tief im Südosten Siesta hält, waren die sozialdemokratisch stärksten Achsen immer vom Nordwesten geprägt. Das reicht von Kreisky-Brandt-Palme in den 1970er-Jahren bis zu Blair-Schröder-Persson zwei Dekaden später. Nur Deutschland und Schweden sind doppelt vertreten. Österreich hatte erst Viktor Klima und dann oder deshalb Schwarz-Blau unter Wolfgang Schüssel.

Deutschland – terra incognita.

Doch fürs interparteiliche Sentiment eignen sich die Helden der Christdemokraten so wenig wie ihre Antipoden. Ähnlich den nordnachbarlichen Großgenossen bedienen auch Kohl und Merkel nur den Kopf, aber nicht den Bauch der österreichischen Gesinnungsfreunde.

Es führt kein Weg an einer Lösung vorbei. Wir haben sie noch nicht.

 

Nur Selbstbetrug und Lebenslüge halten ein Wackelbild gerade, das sich nährt aus dem schnelllebigen Irrtum, durch eigene Kraft dauerhaft besser als die Deutschen zu sein. Schon die Maßstäbe wirken verräterisch: Der Süden ist kein Kriterium, so lange es um gesellschaftliche Vergleiche geht. Ost wie West bleiben außen vor, außer die Schweiz blickt einmal neidvoll nach hier. Doch kaum ist der kurze Wahn vom überlegenen Modell gegenüber den Piefkes und Eidgenossen vorbei, bricht sie wieder aus, jene chronisch multiple Austromanie der unerfüllten Wunschzugehörigkeit, die angesichts des Nord-Süd-Selbstbildes noch deutlicher gerät als durch die West-Ost-Fremdeinordnung.

Die untaugliche Religion.

Barcelona und Milan kontra München und Manchester: Schon die ähnlich starken konträren Fußball-Vorlieben zeigen die Unschlüssigkeit des Ösis. Seine Sehnsuchtsorte liegen in Italien, Griechenland und Spanien. Er kennt nicht Helgoland, Rügen und Sylt, geschweige denn Gotland, Öland und Orust. Skandinavien ist ihm so abseits wie Benelux und Frankreich. Doch die gemeinsame Sprache bindet ihn an die deutsche Geisteswelt, obwohl er im Umgang eher der französischen entspricht.

Dort jene, die Philosophie als Aneinanderreihung sich nicht widersprechender Feststellungen sehen für einen Diskurs mit geradezu mathematisch basierter Rechthaberei. Hier jene, die in der Widersprüchlichkeit eines klugen Gesprächs erst die wahre Herausforderung an die Philosophie erkennen und diese letztlich in der Literatur am besten manifestiert glauben. Rechts-links? Nord-Süd?

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Katholisch-protestantisch? Das Österreich-Klischee auch davon ist falsch. Die deutsche Regierung ist zwar überwiegend evangelisch, die Bevölkerung jedoch mehrheitlich katholisch. Allerdings bloß knapp und relativ: 24 versus 23 Millionen. Nur 60 Prozent sind noch bei einer christlichen Kirche – in Österreich 65 Prozent (61,4 % katholisch). In Griechenland dagegen ist die Orthodoxie Staatsreligion und 97 Prozent der Menschen gehören ihr an. Und die legendäre Freizügigkeit der Schweden hört sich da ebenso auf wie beim Alkohol: Dort war die evangelisch-lutherische Kirche noch bis zum Jahr 1999 Staatsreligion. Heute bekennen sich immer noch zwei Drittel der Bevölkerung zu ihr.

Im Westen ist die Ost-West-Orientierung des Ostens so schwer verständlich wie dort die Nord-Süd-Perspek­tiven des Westens.