erner Faymann mag nicht als großer Kanzler in die Geschichte der Zweiten Republik eingehen, doch keiner verkörpert besser die ewige Zerrissenheit des Kleinstaates an den Bruchlinien Europas. Wo Vorvorvorvorvorgänger Fred Sinowatz noch ganz allgemein „Es ist alles sehr kompliziert“ postuliert hat, äußert sich sein Nachnachnachnachnachfolger total konkret: „Es führt kein Weg an einer Lösung vorbei. Wir haben sie noch nicht.“ Der erste EU-Regierungschef, der Griechenland nach dem dortigen Machtwechsel besucht, hat davor bereits viele rote Duftmarken von klammheimlicher Sympathie mit der neuen Linken im tiefen Süden gesetzt. So viel Ideologie war hier schon lange nicht. Aber nur kurz. Das rasch enttäuschte Liebeswerben samt Kehrtwendung auf die stramm deutsche Linie ist keine andere Geschichte, sondern typisch für den Balanceakt bzw. Schlingerkurs von Österreich II.
Rinks und lechts lässt sich dabei frei nach Ernst Jandl leicht velwechsern. Während heute das rote Utopia tief im Südosten Siesta hält, waren die sozialdemokratisch stärksten Achsen immer vom Nordwesten geprägt. Das reicht von Kreisky-Brandt-Palme in den 1970er-Jahren bis zu Blair-Schröder-Persson zwei Dekaden später. Nur Deutschland und Schweden sind doppelt vertreten. Österreich hatte erst Viktor Klima und dann oder deshalb Schwarz-Blau unter Wolfgang Schüssel.
Deutschland – terra incognita.
Doch fürs interparteiliche Sentiment eignen sich die Helden der Christdemokraten so wenig wie ihre Antipoden. Ähnlich den nordnachbarlichen Großgenossen bedienen auch Kohl und Merkel nur den Kopf, aber nicht den Bauch der österreichischen Gesinnungsfreunde.
Das ist deren historischem Seiltanz zwischen Opfer und Täter des Nationalsozialismus geschuldet, neben dessen Haltbarkeit Kanzler Franz Vranitzkys staatsmännische Schuldeinsicht geradezu als Ohnmachtswort erscheint. Kaum ein Land kennen die Deutschen besser als Österreich. Umgekehrt ist es umgekehrt. Jenseits von München beginnt für das Gros der Älpler terra incognita. Der Norden, das ist für sie Ordnung und Größe, der Hort eines Regelwerks, noch unerbittlicher als der eigene Minderwertigkeitskomplex.
//Österreich, das ist die immerwährende Sehnsucht nach südlicher Lebenslust auf Basis nördlicher Arbeitsethik. Geht nicht, gibt‘s zwar nicht, doch das Beste aus beiden Welten spielt es selten.
Es führt kein Weg an einer Lösung vorbei. Wir haben sie noch nicht.
Nur Selbstbetrug und Lebenslüge halten ein Wackelbild gerade, das sich nährt aus dem schnelllebigen Irrtum, durch eigene Kraft dauerhaft besser als die Deutschen zu sein. Schon die Maßstäbe wirken verräterisch: Der Süden ist kein Kriterium, so lange es um gesellschaftliche Vergleiche geht. Ost wie West bleiben außen vor, außer die Schweiz blickt einmal neidvoll nach hier. Doch kaum ist der kurze Wahn vom überlegenen Modell gegenüber den Piefkes und Eidgenossen vorbei, bricht sie wieder aus, jene chronisch multiple Austromanie der unerfüllten Wunschzugehörigkeit, die angesichts des Nord-Süd-Selbstbildes noch deutlicher gerät als durch die West-Ost-Fremdeinordnung.
Die untaugliche Religion.
Barcelona und Milan kontra München und Manchester: Schon die ähnlich starken konträren Fußball-Vorlieben zeigen die Unschlüssigkeit des Ösis. Seine Sehnsuchtsorte liegen in Italien, Griechenland und Spanien. Er kennt nicht Helgoland, Rügen und Sylt, geschweige denn Gotland, Öland und Orust. Skandinavien ist ihm so abseits wie Benelux und Frankreich. Doch die gemeinsame Sprache bindet ihn an die deutsche Geisteswelt, obwohl er im Umgang eher der französischen entspricht.
Dort jene, die Philosophie als Aneinanderreihung sich nicht widersprechender Feststellungen sehen für einen Diskurs mit geradezu mathematisch basierter Rechthaberei. Hier jene, die in der Widersprüchlichkeit eines klugen Gesprächs erst die wahre Herausforderung an die Philosophie erkennen und diese letztlich in der Literatur am besten manifestiert glauben. Rechts-links? Nord-Süd?
//Katholisch-protestantisch? Das Österreich-Klischee auch davon ist falsch. Die deutsche Regierung ist zwar überwiegend evangelisch, die Bevölkerung jedoch mehrheitlich katholisch. Allerdings bloß knapp und relativ: 24 versus 23 Millionen. Nur 60 Prozent sind noch bei einer christlichen Kirche – in Österreich 65 Prozent (61,4 % katholisch). In Griechenland dagegen ist die Orthodoxie Staatsreligion und 97 Prozent der Menschen gehören ihr an. Und die legendäre Freizügigkeit der Schweden hört sich da ebenso auf wie beim Alkohol: Dort war die evangelisch-lutherische Kirche noch bis zum Jahr 1999 Staatsreligion. Heute bekennen sich immer noch zwei Drittel der Bevölkerung zu ihr.
Das doppelte Scharnier.
Mehr noch als Deutschland bei den Konfessionen hat Österreich die geographische Rolle des Scharniers und sie – vielfach uneingestanden – auch oft genutzt. Dieser Part benötigt aber auch eine aktive und doppelseitige Interpretation. Denn er dient als Scharnier zwischen Nord und Süd wie West und Ost. Die Dualität dieses Gelenkes ist ein Hauptgrund für die Zerreißproben, wohin die Reise gehen soll. Im Westen ist die Ost-West-Orientierung des Ostens so schwer verständlich wie dort die Nord-Süd-Perspektiven des Westens. Beide Regionen verstehen nicht die Orientierungsprobleme jenes Südens, wo Europas große Kulturen immer noch eher zusammenstoßen als dass sie zusammen wachsen: Germanischer, romanischer und slawischer Siedlungsraum trifft nur hier aufeinander.
//Diese Einzigartigkeit ist Österreichs größte Zukunftschance. Dass sie sich ausgerechnet in Kärnten manifestiert, wirkt einerseits als eine Ironie des Schicksals und andererseits als Grund, warum die Scharnierfunktion nicht zur Staatsräson wird. Wien ist von Stockholm und Athen jeweils rund 1.750 Straßenkilometer entfernt (Innsbruck deutlich näher bei Schweden …). Moskau liegt nur zwei Autostunden weiter. Wer A sagt, muss auch B sagen: Wir Greco-Germanen sind auch Teuto-Slawen.
Im Westen ist die Ost-West-Orientierung des Ostens so schwer verständlich wie dort die Nord-Süd-Perspektiven des Westens.