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NOVEMBER 2015

Essay

Wir schaffen das? Es schafft uns!

Tirol ist seit jeher Transitland: Scharnier zwischen Nord und Süd. Österreich ist prinzipiell Maklerstaat: Mittler zwischen West und Ost. Das Herz der Alpen auf der Insel der Seligen. Mit Innsbruck, der herzigen Weltstadt, und Wien, der lieblichen Metropole. So sehen wir uns, so mögen wir uns an Inn und Donau, Bergisel und Kahlenberg. Doch wenn die Flüchtlinge nicht weiterreisen, wenn die Massenwanderung hier stoppt, dann ist Schluss mit der Gemütlichkeit. Die Asyldebatte streut nicht bloß Sand ins Getriebe, sie schüttet Salz in die Wunden unseres Selbstverständnisses.

N

icht Zwentendorf, nicht die Hainburger Au, kein Rotgrün, kein Schwarzblau, weder Waldheim noch Haider haben Österreich so schnell polarisiert wie die Flüchtlingsfrage. Das liegt einerseits an der enormen gesellschaftlichen Tempoverschärfung durch Digitalisierung und Globalisierung, doch es entlarvt andererseits bloß jahrzehntelang gepflegte Lebenslügen und Identitätsirrtümer eines Gemeinwesens, das sich allemal lieber einlullen als aufrütteln lässt. Nicht von ungefähr hat es den Übergang vom Fremdenverkehr zum Tourismus ohne große Diskussion vollzogen. Wo Wording und Marketing das Einkommen sichern, ist inhaltliche Auseinandersetzung ein Störenfried. Genau das rächt sich jetzt. Fremd ist der Fremde nur in der Fremde: Diese traurige Weisheit des komischen Karl Valentin manifestiert sich acht Jahrzehnte nach ihrer Schöpfung noch in so vielfältiger Form, dass es an seinen grimmigen Freund Bertolt Brecht gemahnt: Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.

 

 

Wenn es heute sofort Abwehrreflexe gegen Möchte-Gern-Dableiber gibt, während die Durchzieher vor allem als Umsatzbringer gelten und die Weggeher selbst Schuld sind, offenbart dies auch ein erschreckend geringes Geschichtsbewusstsein – vor allem in Tirol. Da wird einerseits vergessen, dass hier noch 1837 die letzten Protestanten aus dem Zillertal vertrieben wurden – aber scheinheilig unter dem Titel Inclinanten oder Akatholische, denn bei Evangelischen hätte wohl das Toleranzpatent von 1781 gegolten. Da wird andererseits verdrängt, dass im 19. Jahrhundert unsere Not leidenden Bergbauern ihre Kinder alljährlich zu mühsamsten Fußmärschen nach Deutschland zwangen, damit diese sich als Saisoniers verdingen konnten. In heutiger Diktion waren das Wirtschaftsflüchtlinge. Und da wird überdies sogar jene vermeintliche Option unterschlagen, die Südtirolern von 1939 bis 1943 die Wahl ließ, entweder ihre Sprache und Kultur oder ihre Heimat zu verlassen – was dann immerhin 75.000 taten. Keine Völker-, aber zumindest eine Stammeswanderung Richtung Norden.

„Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.“

Bertolt Brecht

Sie haben sogar auf der Sitzbank getanzt. Das habe ich zuletzt vor fünf Jahren erlebt. Silvester 2010 in einem Dachrestaurant von Istanbul. Ein anatolischer Adorf sprang da noch schneller auf den Stuhl als die vielen Schweinsteigers im Festzelt – 800 Meter entfernt von Hauptbahnhof und Flüchtlingselend. Lustig samma. Der Kulturunterschied zwischen bayerischer und türkischer Feierei wirkt dann geringer als jener zwischen Bier und Schnaps.

Ich bin ein Migrant und empöre dadurch Leser.

Nun ist das 1. kein Argument, sondern eine Anekdote, und hat 2. nichts mit unserer Problemstellung zu tun. Aber es erinnert an Valentin, der in diesem Zusammenhang selten ausführlicher zitiert wird. Etwas später heißt es nämlich in dieser Doppelconference, dass „jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist, und zwar  solange, bis er sich nicht mehr fremd fühlt –  dann ist er kein Fremder mehr“.

 Das ist ein Appell zu Offenheit, Neugier und Verständnis sowie eine Absage an Abschottung, Rassismus und Selbstgerechtigkeit. Zu den dümmsten Begleiterscheinungen der aktuellen Situation gehört das Fehlen eines Feldes für Beruf und Ausbildung auf dem Formular für die Personaldaten von Flüchtlingen und Asylsuchenden. Interessiert uns nicht … Reisende soll man nicht auf­halten …

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Besser noch ein „Gschichtl einidruckn“: Ich habe in vier Dekaden Journalismus selten so viele geifernde Reaktionen auf einen Text bekommen wie vergangenes Jahr auf eine Kolumne in der TT mit dem Titel: „Ich bin ein Migrant“. Die Empörung galt weniger der Feststellung, dass in Tirol mehr Einwanderer leben als Innsbruck Einwohner hat. Sie entzündete sich viel mehr an meinem Story Telling zur Definition der „Personen mit Migrationshintergrund“: Das sind alle Einwohner, deren beide Elternteile im Ausland geboren wurden. Also zum Beispiel ich – ein Ur-Innsbrucker mit Südtiroler Herkunft.