chon der Sammelbegriff Tiroler Gemeinderatswahlen ist irreführend. Denn es sind zudem eigene Direktwahlen der Bürgermeister und es handelt sich um sehr unterschiedliche Gemeinderatswahlen in Tirol. Ungeachtet von Ähnlichkeiten, Parallelen und Gemeinsamkeiten wirken diese Urnengänge so vielfältig wie die Gemeinden. Die Bandbreite dafür ist hier größer als in jedem anderen Bundesland. Diese Einschätzung gilt auch ungeachtet der Landeshauptstadt und ihrer Sonderstellung, die durch einen versetzten Wahltermin – planmäßig im Frühjahr 2018 – untermauert wird.
//Einerseits genießt die lokale Politik noch das vergleichsweise größte Vertrauen der Bevölkerung. Das ergibt zumindest seit jeher die halbjährliche Eurobarometer-Umfrage in der EU. Andererseits wird sie aktuell wie alle Verwaltungsebenen von der Flüchtlingsfrage überschattet. Das lässt befürchten, dass für viele Kandidaten die Möchte-Gern-Kompetenz „Grenzen dicht“ reicht, um gewählt zu werden. Was formal die Tiroler Gemeindewahlordnung
1994 zusammenhält, spielt sich real zwischen der bevölkerungsärmsten und flächenmäßig größten Gemeinde Österreichs ab. Hier liegen die kleinste Stadt des Staates und der gemeindereichste Bezirk der Republik. Gramais hat nur 46 Einwohner, die Stadt Rattenberg bloß 410 auf lediglich 0,11 km². Sölden, der mit 2,5 Millionen nächtigungsstärkste Ort in Tirol verfügt dafür mit 466,88 km² auch über die größte Fläche aller Gemeinden in Österreich.
Kufstein 400 mal stärker als Gramais.
Die Rekorde setzen sich fort durch die Schlafdörfer im Umland der einzigen Statutarstadt des Landes, die hier als einzige Gemeinde nicht 2016 wählt: Innsbruck-Land ist mit 65 Kommunalparlamenten der gemeindestärkste und mit 175.000 Einwohnern auch der bevölkerungsreichste nicht urbane Bezirk Österreichs. Nur in den Statutarstädten Wien, Graz und Linz leben noch mehr Menschen als hier. Die Wahlen Ende Feber reichen von 6060 Hall bis 9992 Iselsberg-Stronach. Wer Tiroler Gemeinden
per Postleitzahlen erkennen will, kann jedoch in Vorarlberger wie Kärntner Fallen tappen. Zur sicheren Identifizierung als Festigung der Heimatkunde taugen eher die fünfstelligen Codes auf der Basis von LAU-2, dem System lokaler Verwaltungseinheiten von Eurostat, dem Statistikamt der EU. Alle Tiroler Orte beginnen mit 70. Das gilt für die (abgesehen von Innsbruck) sechs Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern – Kufstein, Telfs, Hall, Schwaz, Wörgl und Lienz – ebenso wie für die vier mit lediglich zweistelliger Bevölkerungszahl: Hinterhornbach, Namlos, Kaisers und Gramais. Die Festungsstadt (18.410) hat vierhundert Mal so viele Einwohner wie das Schlusslicht im Außerfern.
Bei einer Liste gibt es keine Wahl.
Nur das Burgenland ist auf der untersten Verwaltungsebene noch stärker strukturiert als Tirol. Die Steiermark hat eine halbe Million mehr Bevölkerung, aber die Zahl ihrer Gemeinden von 542 auf 287 gesenkt.
Nur in den Statutarstädten Wien, Graz und Linz leben noch mehr Menschen als hier.
Kärnten kommt mit 132, Salzburg mit 119 aus. Dort hat die Durchschnittskommune 4.200 bzw. 4.500, hierzulande bloß 2.600 Einwohner. Und so soll es bleiben. Landeshauptmann Günther Platter sprach sich bei der Verkündung des Wahltermins gegen eine „von oben herab verordnete Zwangsfusionierung von Gemeinden wie in der Steiermark“ aus. Denn dadurch würden „soziale Strukturen zerschlagen und den Gemeinden ein wichtiger Teil ihrer Identität genommen.“
//Diese Identität wird maßgeblich mitgeprägt durch die Bürgermeister – vom klassischen Dorfkaiser im hinteren Talboden bis zum modernen Dienstleister in der prosperierenden Bezirksstadt. Da wie dort ortet der Politikwissenschaftler Ferdinand Karlhofer drei besondere Auffälligkeiten im Vergleich mit anderen Bundesländern: Nirgends gibt es eine höhere Quote an Einheitslisten. Zuletzt hatten in beinahe einem Zehntel aller Gemeinden die Bürger keine Wahl, sondern bloß eine Liste, die hundert Prozent der gültigen Stimmen erzielt und den Bürgermeister stellt. Das zweite Tiroler Phänomen besteht im Listenkoppeln – 2010 in 73 Gemeinden, 51 davon als ÖVP-Tarnungen. Das dritte Spezifikum liegt im hohen Anteil von Bürgermeistern, die ohne Mehrheit im Gemeinderat regieren.
Ein Blauer im grünen Niemandsland.
Die wahre Macht einer Regionalpartei zeigt sich letztlich weniger an ihrer Landtagsstärke als durch die Zahl ihrer Bürgermeister. In Tirol werden 236 der Volkspartei zugerechnet und nur 27 der Sozialdemokratie. Neben einer Handvoll Unabhängiger ist Gerald Hauser der einzige freiheitliche Gemeindechef – in St. Jakob in Defereggen. Die Grünen dagegen,
wiewohl in fünf Landesregierungen, hatten noch nie einen Bürgermeistersessel in Tirol (während die Blauen mit Siegfried Dillersberger in Kufstein und Horst Wendling in Kitzbühel auch schon an der Spitze von Bezirksstädten standen).
//Mehr noch als alle Daten, stärker als jede der rund 1.000 Listen prägen also die handelnden Personen die Gemeinderatswahlen in Tirol. Das gilt für die schwarze Bürgermeisterpartei mit ihren aktuell rund 2.500 Mandaten genauso wie für die roten Außenseiter, deren größter Erfolg wohl vor einem Jahrzehnt die gleichzeitige Besetzung der Gemeindechefsessel von Imst, Landeck und Reutte war – also aller Bezirksstädte westlich von Innsbruck. Persönlichkeit geht vor Parteifarbe: Dieser Regel ist auf der kommunalen Ebene stärker noch als in der Landes- und Bundespolitik Tribut zu zollen.
Die Frauenschwäche im starken Land.
Zwei Musterbeispiele dafür werden wohl auch 2016 wieder antreten: Einerseits Ernst Schöpf, der 55-jährige Präsident des Gemeindeverbands, der bereits seit 30 Jahren Bürgermeister von Sölden und ein Schwergewicht der Volkspartei ist. Andererseits Edgar Kopp, der 77-jährige frühere Vizepräsident des Gemeindeverbands, der schon seit 29 Jahren Bürgermeister von Rum und ein Aushängeschild der Sozialdemokraten ist. Sölden hält dennoch den Rekord an antretenden Listen – 1998 waren es zehn. In Rum könnte unterdessen Kopps Sohn Christoph – heute schon Vize – in Vaters Fußstapfen treten.
//Das ist in Hall Eva Maria Posch nach einigen Zwischenspielen gelungen. Sie und Innsbrucks Christine Oppitz-Plörer regieren immerhin die viertgrößte und größte Stadt Tirols, also ein Fünftel seiner Bevölkerung. Das wirkt nach raschem Fortschritt in einem Land, das erst 1994 mit Helga Machne in Lienz eine erste Bürgermeisterin hatte, aber 2002 mit Hilde Zach Österreichs erste Bürgermeisterin einer Landeshauptstadt stellen konnte. Die Zahl der Bürgermeisterinnen hat sich 2010 gegenüber 2004 zwar vervierfacht, dennoch steht heute erst in acht Gemeinden eine Frau an der Spitze.
//In ruhigeren Zeiten wäre dieser geringen Quote ein Hauptaugenmerk der Wahlbeobachter sicher. Doch 2016 geht es eher darum, wie sehr die Flüchtlingsfrage die Gemeindeebene beeinflusst. Tirol steht im nationalen Visier, weil es nach Oberösterreich im Herbst 2015 der erste kommunale Testfall für die Ausbreitung von blauen Augen für die etablierte Politik ist. Sie muss diese Wahlen fürchten.
Die Zahl der Bürgermeisterinnen hat sich 2010 gegenüber 2004 zwar vervierfacht, dennoch steht heute erst in acht Gemeinden eine Frau an der Spitze.