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JUNI 2017

Vom Rundfunk zur Identitätssicherung

Der ORF steht mehr denn je zur Diskussion. Doch sie verläuft zu kleinkariert. Der öffentliche Auftrag benötigt sowohl Ausweitung wie neue Definition.

1969

war die Welt noch in Ordnung. Ö1, Ö-Regional und Ö3 wurden gerade zwei Jahre alt, das Farbfernsehen hatte gerade erst begonnen, FS 2 war noch ein werktägliches Versuchsprogramm und in vielen Haushalten nicht zu empfangen. Ein gelernter HNO-Arzt kommentierte 28 Stunden live die erste Mondlandung. Und alle Österreicher, die Neil Armstrong am 20. Juli einen großen Schritt für die Menschheit setzen sahen, verbanden damit sein Antlitz: Herbert Pichler, der Mond-Pichler des ORF.

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Das wahre Gesicht des österreichischen Rundfunks war damals allerdings schon zehn Jahre lang Herbert Fichna, ein Nachrichtensprecher der „Zeit im Bild“, des Lagerfeuers der Nation. Punkt 19.30 Uhr, eine halbe Stunde vor der „Tagesschau“ der ARD und 15 Minuten vor „heute“ im ZDF hieß es in Österreich flächendeckend: „Pscht, der Papa will jetzt fernsehen.“ Der ORF strukturierte sogar Anfang und Ende des Abendessens anders als die deutschen und Schweizer Nachbarn. Doch damals wusste das niemand. Außer jene televisionär privilegierten Grenzlandbewohner, die ausländische Programme empfangen konnten. Von „Disco“ mit Ilja Richter bis zum „Rockpalast“ – den beiden Nonplusultra-Polen der leichten bis anspruchsvollen Populärmusik. Hierzulande hingegen moderierte Peter Rapp „Spotlight“ und legte Rudi Dolezal seine Karrierebasis mit „Ohne Maulkorb“. Doch das war schon zehn Jahre später und Fichna nicht mehr im Guckkastl – stattdessen Robert Hochner, der Moderator der neuen Abendinformation „Zeit im Bild 2“, Dienstag und Donnerstag vor dem „Club 2“.

Einen derart großen kleinsten gemeinsamen Nenner, wie es der ORF in seiner Monopolzeit war, wird es nie mehr geben.

 

Der größte gemeinsame Nenner.

50 Jahre nach Inkrafttreten des Rundfunkgesetzes lässt sich der nationale Stellenwert des ORF besser durch seine bildschirmomnipräsenten Galionsfiguren erzählen als anhand der Generalintendanten und -direktoren. Ungeachtet des trockenen Verwaltungsjuristen Otto Oberhammer und des kreativen Wirbelwinds Thaddäus Podgorsky bleibt von den Machern der ersten drei Jahrzehnte nach 1967 vor allem Gerd Bacher in Erinnerung. Aber das Fernsehvolk nahm dennoch Hugo Portisch und Helmut Zilk als prägender wahr – den Österreich die Welt erklärenden Jahrhundertjournalisten, der auch Bundespräsident hätte werden können, und den vom Lehrer zum Fernsehdirektor avancierten „In eigener Sache“-Schöpfer, der dann Wiener Bürgermeister geworden ist. Die ersten zwei Dekaden mit dem Rundfunkgesetz waren das Goldene Zeitalter des ORF, einer europaweiten Vorzeigeanstalt. Wenn Hans-Joachim Kulenkampff am Samstagabend zu „EWG“ lud – „Einer wird gewinnen“ mit der gleichen Abkürzung wie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft –, dann waren wir wieder wer. Als Teil der Eurovision, auf Augenhöhe mit dem großen Deutschland und der vielsprachigen Schweiz.

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Zu Recht. Denn der Vergleich machte uns sicher. Als hier noch niemand wusste, was eine Corporate Identity ist, hatte der ORF sie schon – vom Augen-Logo, dem roten Doppel-O auf Silbergrund bis zu ebenso gefärbten Landesstudios. Er war jener wichtigste Identitätsstifter und größte Kulturträger des Landes, den er laut Bacher verkörpern sollte. Geschützt durch ein Monopol, konkurrenzfrei bei Radio und Fernsehen. Als in Deutschland die 1984 gestarteten Privatsender an der Vormacht von ARD und ZDF zu kratzen begannen, wurde hier regionalisiert statt Mitbewerber aus Österreich zuzulassen.

Herausragend im Europavergleich.

Das 1988 begründete „Bundesland heute“ ist in Summe heute noch die meistgesehene Sendung fast jeden Tages. Dazu noch mehr als eine Million Seher der „Zeit im Bild 1“ und fast 600.000 der „ZIB2“: Der ORF ist also nach wie vor der National Broadcaster. Aus dieser Perspektive hatte jene Reform Mitte der 1990er-Jahre unter General Gerhard Zeiler Erfolg, die seine Nachfolger Gerhard Weis und Monika Lindner lediglich prolongierten – wie auch Alexander Wrabetz, der zweitlängst dienende Chef des weiterhin führenden Medienhauses des Landes. Mit Armin Wolf hat er zudem einen Anchorman, dessen Wirkung in der Unternehmensgeschichte nur mit Portisch und Hochner zu vergleichen ist.

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Um zu verstehen, warum sich dennoch nicht einmal der ORF selbst in trügerischer Sicherheit wiegt, braucht es mehr als einen Blick auf die einzelnen Sendungsquoten. Sein TV-Publikumsmarktanteil ist von 1988 noch 96 % auf heute 35 % gesunken. Das ist im EU-Vergleich allerdings ein herausragender Wert – wie auch für die Glaubwürdigkeit des „nationalen“ Fernsehens: 77 % halten es für zuverlässig.