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JÄNNER 2020

Rien ne va plus

Michael ist 25 und spielsüchtig. 6020 erzählte er, wie Karten, Kugeln und Casinos sein Leben bestimmten und wieso für ihn lange Zeit alles nur ein Spiel war. Therapeutin Hildegard Seebacher vom Verein Suchthilfe BIN erklärt, warum es das meistens nicht ist.

Bevor Michael und sein Freund Simon an einem Abend vor fünf Jahren die Innsbrucker Bars abklapperten, hieß es so wie immer im Casino das Glück herauszufordern.

Spielsucht-Gefährdete verwenden das Spielen oft, um anderen Problemen zu entgehen. Den Irrglauben, dass es sich nur um ein Spiel handelt, verstärken Spielanbieter, indem sie beispielsweise Geld durch Jetons ersetzen.

„Am Roulette-Tisch konnte man ein bisschen verrückt sein und einfach lachen, sowohl wenn es schieflief als auch wenn man gewann“, sagt Michael.

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Nach einer Reihe kleinerer Enttäuschungen schob Michael, wie nach einer Eingebung, Jetons im Wert von 25 Euro auf das grüne Feld mit der Null. Die Kugel rollte elegant über den Rand der Drehscheibe und landete tatsächlich zwischen der schwarzen 26 und der roten 32 – genau auf der grünen Null.

 

 

Psychotherapeutin Hildergard Seebacher, vom Verein Suchthilfe BIN, kommentiert Michaels Geschichte.

Die Anfänge.

Obwohl Michael seinen Einsatz in diesem Moment versechsunddreißigfachte, bezeichnet er ihn heute als einen der größten Verluste seines Lebens. „Nach einem so großen Gewinn macht man früher oder später weiter.“

Ein großer Erfolg kann zum „Kick-Erlebnis“ werden, vergleichbar mit dem ersten Heroinkonsum. Das Gefühl des Glücks, des Stolzes und der Selbstwertsteigerung bleibt tief im Gedächtnis und man versucht es zeitlebens zu wiederholen.

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Simon und er kamen nach kurzem Freudentaumel zu sich und entschieden, für diesen Abend aufzuhören. Sie gönnten sich ein Essen im Casino-Restaurant und feierten den Sieg. Schon am nächsten Tag kehrte Michael aber ins Casino zurück. Zu diesem Zeitpunkt war er 20 Jahre alt. Heute ist er 25. Er spielt, seitdem er 18 war.

So wie alle anderen.

Zur gleichen Zeit studierte Michael Psychologie und arbeitet für verschiedene Tiroler Betriebe in der Produktion, um sein Leben, sein Studium und sein Hobby

Die Bezeichnung verharmlost natürlich: Der Spieler entwickelt damit einen Abwehrmechanismus und möchte sich das Problem nicht eingestehen.

– so bezeichnete er die regelmäßigen Casino-Besuche – finanzieren zu können. „Die Einsätze wurden schließlich immer größer“,

Der Spieler erhöht seine „Dosis“ und wird seinem Suchtverhalten gegenüber immer toleranter.

erinnert er sich. Er begann, Spielsysteme zu entwickeln, glaubte, Muster 

Süchtige leiden oft an einer Art „magischem Denken“ und glauben, durch Rituale oder Spielsysteme den Zufall oder das Glück beeinflussen zu können.

zu erkennen. Die paar Stunden, die er mehrmals wöchentlich im Casino verbrachte, reichten ihm schon bald nicht mehr. Roulette und Blackjack – seine zwei Lieblingsspiele – konnte er auch online spielen, fand er heraus. „Online-Plattformen hatten zwei Vorteile: Ich konnte am hellichten Tag spielen, ohne mich zu schämen, und alles ging wesentlich schneller.“

Schamgefühle gehören zur Sucht dazu – sie führen in weiterer Folge oft zum sozialen Rückzug bis hin zur kompletten Vereinsamung. Je kürzer der Zeitraum zwischen Einsatz und Ergebnis, desto höher das Suchtpotenzial.

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Obwohl er bei seinem Job viel Geld verdiente, blieb am Ende des Monats nichts davon übrig. Er schob es aufs Studium: „Kein Student hat Geld, wieso sollte ich welches haben“, sagte er sich. Er überlegte, das Studium hinzuwerfen – es lenke ihn nämlich vom Leben ab.

Pleite.

In Wahrheit, so Michael heute, wusste er, dass sein Spielverhalten nicht gesund war. Dass er in jeder freien Minute online spielte oder ins Casino ging, bereitete ihm manchmal Schuldgefühle. Der Spaß, Geld aufs Glück zu setzen, überwog aber. Er glaubte außerdem, dass er gut sei. Dass er eigentlich nicht viel Geld verspiele, im schlimmsten Fall auf einer schwarzen Null stehe. Andere seien ja in viel schlechterer Lage, stahlen oder nahmen Kredite auf, um ihre Schulden zu begleichen, sagte er sich. Er verzocke ja nur seine Gewinne oder seinen Lohn.

Viele Süchtige überschreiten zwei Grenzen: Sie spielen mit fremdem Geld und/oder sie werden kriminell, um sich Mittel zu beschaffen.

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„Einmal aber war ich pleite“, sagt er. Mitte des Monats war das Konto mit mehr als 300 Euro überzogen, der Kühlschrank war leer. In dieser Situation kam ihm Simon, sein bester Freund, zu Hilfe. Er lud ihn eine Woche zum Essen ein

Süchtigen Geld zu leihen, ist nicht hilfreich. Meistens unterstützt man damit nur die Sucht. Simon handelte also richtig, indem er ihm mit Essen half.

und sprach mit ihm über seine Probleme.

Zufall und Glück.

Den entscheidenden Hinweis erhielt Michael aber zufällig. Er lernte für eine Vorlesungsprüfung, in der es um Süchte ging. Dabei musste er sich Mitschriften von Kommilitonen leihen, da er arbeitete, spielte und bei der Vorlesung kaum anwesend war. „Auf einem der Schmierzettel las ich einen Satz und erkannte mich in dem absolut wieder.“

Damit man die Krankheit erkennt, braucht es einen „Wachrüttler“. In diesem Fall ist es ein sanfter. Meist aber ist es der Beginn einer Krisensituation: Die Bank stellt den Kredit fällig, Angehörige entdecken das Ausmaß der Schulden oder die Veruntreuung fällt auf.

Wie der Satz genau lautete, weiß er heute nicht mehr. Er leitete aber eine Trendwende in seinem Leben ein.

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Er entschied sich, das Studium nicht hinzuwerfen, den Abschluss zu machen und saß kurze Zeit später bei der Suchtprävention – in einer Selbsthilfegruppe für Gefährdete. „Ich dachte mir damals bei jedem, der zu Wort kam, dass er eh schon süchtig ist“,

Meist sieht man die Situation bei anderen viel klarer. Sich selbst die Krankheit einzugestehen, ist der schwerste und wichtigste Schritt.

sagt er heute. Schließlich kam er an die Reihe. Und musste ehrlich sein.

Was zuvor geschah.

Dass sein Suchtverhalten nicht aus heiterem Himmel kam, weiß Michael genau. Nie habe er familiären Rückhalt

Biografien von Süchtigen weisen oft schwierige familiäre Verhältnisse auf: Vernachlässigung oder Verwöhnung in der Kindheit, schwierige Lebenssituationen sowie, in den allermeisten Fällen, eine komplizierte Beziehung zum Vater.

in irgendeiner Weise verspürt: Nach der Scheidung seiner Eltern bezahlte sein Vater die Alimente, wollte vom Buben aber sonst kaum etwas wissen. Die Mutter habe sich vielmehr um ihre Karriere gekümmert und nur die notwendigste Zeit mit ihm verbracht. Seinen Suizidversuch mit
14 Jahren habe man unter den Teppich gekehrt und sah auch keine Notwendigkeit, die depressiven Symptome in seinem Verhalten behandeln zu lassen.

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Sein einziges Glück seien stets seine Freunde gewesen. Simon habe ihn wortwörtlich zur Therapie geschleppt. „Nach der zweiten Sitzung wollte ich abbrechen, doch er ließ das nicht zu.“

Auch als Angehöriger sollte man sich beraten lassen. Richtig Hilfe zu leisten, ist nämlich nicht einfach, gerade wenn der Süchtige einem nahesteht.

Abschluss.

Heute arbeitet Michael in der Personalabteilung eines Tiroler Unternehmens. „Ich verdiene nicht mehr so viel wie früher, habe aber viel Freizeit, was unendlich viel wertvoller ist“, sagt er. Nach etwa einjähriger Therapie sieht er sich als geheilt an.

Schwierig. Eine Sucht kann nicht geheilt, sondern „nur“ gestoppt werden. Im besten Fall kann man problemlos abstinent leben. Eine Rückkehr zum gelegentlichen Spielen ist nicht möglich, da die Kontrollfunktion verloren gegangen ist.

Den Drang, Geld aufs Glück zu setzen, verspüre er aber immer noch. „Das wird wohl auch nie weggehen“, meint er. Sein Therapeut habe ihm geraten, sich ein Ventil zu suchen. Die Sucht sei nicht vom einen auf den anderen Tag abzulegen.

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Das merkte Michael, als er letztes Jahr während seiner Therapie plötzlich wieder im Casino saß und die Kugel verfolgte, die elegant über den Scheibenrand gleitete. Er setze den Jeton im Wert von einem Euro auf den Tisch – und er gewann. Er spürte wieder das Kribbeln in den Fingern, das Dopamin und den Drang weiterzuspielen. Er besann sich aber tatsächlich im letzten Moment eines Besseren. Wenige Minuten später saß er im Restaurant des Casinos. Mit der Mahlzeit wollte er sein Spielen rituell beenden. Seitdem geht er wieder regelmäßig ins Casino

Grundlegend nicht zu empfehlen: Die Sinnesreize verleiten meistens wieder zum Spielen. Als Süchtiger sollte man sich das nicht unbedingt antun.

– nun aber nur zum Essen.

Raus aus der Sucht


Der Verein Suchthilfe BIN bietet Betroffenen und deren Angehörigen Hilfe bei der Bewältigung von Sucht-erkrankungen an. Im Auftrag des Landes Tirol organisiert der Verein Einzelberatungen und Selbsthilfegruppen. Außerdem ist BIN aufklärend tätig.

BIN hilft nicht nur bei Glücksspielsucht. Die Mitarbeiter schaffen auch bei Alkohol-, Medikamenten-, Internet- und Nikotinsucht Abhilfe. Das Team aus Psychologen, Psychotherapeuten, Ärzten, Sozialarbeitern und Pflegern unterstützt Süchtige auf ihrem Weg der Besserung und berät Gefährdete sowie Angehörige.

Infos

Sucht.hilfe BIN
Zentrale Innsbruck
Anichstraße 34, 2. Stock

Tel. +43 512 580040
E-Mail: [email protected]
www.bin-suchthilfe.tirol