o Borders? Sans frontières? Senza confini? Ohne Grenzen? Musikfestivals und Hilfsorganisationen, Sportprojekte und Europaregionen beziehen ihre Namen aus dem Traum von der zwischenstaatlichen Barrierefreiheit in einem Kontinent voller historischer Hindernisse. Spätestens seit 1989 der Eiserne Vorhang und die Berliner Mauer gefallen sind, gelten solche Selbstbezeichnungen als Ehrentitel. Erst Grenzenlosigkeit im sicherheitspolitisch greifbaren Sinn bietet die Grundlage für gedankliche Freiheit im umfassend demokratischen Anspruch. Wenn jetzt also Grenzen insgesamt sowie vor allem die Ab- und Ausgrenzung wieder im Trend liegen, ist dies ein gefährlicher Nährboden für Kleingeist und Kleinmut.
//Aus dieser Perspektive ist es keine Überraschung, wie „schmähstad“ die Tiroler Euregio-Propagandisten seit der Brenner-Kontrolldrohung sind. Sie wissen um die mangelnde Mehrheitsfähigkeit solidarischer Projekte in wohlstandsverwahrlosten Gesellschaften. Das gilt für den internen sozialen Zusammenhalt wie für einen externen Beistandspakt. Lieber halten sie ängstlich die Pappn, als sich im Vorwahlkampf unnötig die Zunge zu verbrennen. Also hat kein hiesiger Mutbürger das Maul so weit aufgerissen wie es notwendig wäre, wenn der deutsche Großhistoriker Heinrich August Winkler dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse schreibt: „Hat er den jahrzehntelangen Terror der baskischen ETA, der nordirischen IRA und der Südtiroler Separatisten vergessen?“
Die politische Großwetterlage – von „America first“ bis „Österreich zuerst“ – schafft den geistigen Brutkasten für Makro-Entkoppelungen wie Katalonien.
Diese unzulässige Gleichmacherei stand immerhin in jener Ausgabe von Europas größtem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, die hierzulande mit Sebastian Kurz als Coverboy erschienen ist. Ein paar Seiten weiter widmete sich Jürgen Habermas als Nestor der deutschsprachigen Philosophie jedoch Emmanuel Macron als wahrer Hoffnung Europas.
Generation Ego-Trip gegen Gemeinwesen.
Der Franzose schlechthin geriet hierzulande aber erst anlässlich Andreas Hofers 250. Geburtstag wieder ins Gerede. Von Napoleon bis zur Besatzungsmacht markiert die Grande Nation die Situationselastizität der vermeintlich widerständigen Älpler in der angeblich ältesten Festlandsdemokratie. „Hände falten, Goschn halten“ könnte in Tirol ernsthaft als Landesmotto ersonnen statt von einem Raiffeisen-General spöttisch zum Volksparteiprinzip erhoben worden sein. Sich „nix scheißn“ hat allenfalls Geltung als hygienisches Prinzip. Die Schere im Kopf verhindert Einwürfe gegen christdemokratische Türkisierung und kontra Einmischung in eine für uns geradezu konstitutive Diskussion – das Europa der Regionen.
//Das Schweigen Tirols zu Katalonien ist ein vielsagender intellektueller Offenbarungseid statt einer selbstredenden geistigen Beitragsleistung. Ein beschämender Ausdruck von demokratiepolitischer Inkompetenz, der ausgerechnet auf dem Wiener Parkett entlarvt wird.
Dort, wo die Hiesigen gern als Schuachplattler antanzen, hat „Die Presse“ Pierre Moscovici interviewt. Die führende bürgerliche österreichische Qualitätszeitung und der maßgebliche sozialistische französische Politiker. Einst als Europaminister ein Hauptinitiator der EU-Sanktionen gegen das austriakische Schwarz-Blau, heute als Währungs- und Finanzkommissar die mächtigste Person der Union. Er sagt: „Wir leben in einer Phase der Schwächung kollektiver Ideen. Das zeigt sich im Nationalismus, der gegen Europa gerichtet ist, im Regionalismus, der gegen die Staaten gerichtet ist, und im Individualismus, der sich gegen die Solidarität wendet.“ Plakativ vereinfacht: Die Generation Ego-Trip gefährdet das Gemeinwesen.
Die Erben des Prinzips Nachbarschaftshilfe.
Moscovici spricht theoretisch über eine grundsätzliche Fehlentwicklung, für die wir von Tag zu Tag mehr Praxis-Belege liefern. Das reicht von der Missgunst gegenüber einer Grundsicherung für alle bis zur Infragestellung der Sozialpartnerschaft. Es gipfelt in der Umdeutung einer Pflicht- zur Zwangsmitgliedschaft von den Kammerbeiträgen bis zum ORF-Programmentgelt. Aber kaum einen empört seine gleichermaßen bescheidene Einspruchsmöglichkeit gegen Geschlecht, Nationalität oder gar die abstammungsbestimmte Tirolität, für und gegen die sie oder er auch wenig tun kann.
//Je besser es uns laut allen verfügbaren Zahlen, Daten und Fakten geht, desto weniger sind wir bereit, dieses Wohlergehen zu (ver)teilen.
„A jeda gheat zu ana Minderheit“, sang Wolfgang Ambros schon vor 40 Jahren. Die Strophe „Dea ane hot goanix, da aundere hot a Göd; dem an gheat da Himme und dem aundan gheat de Wöd“ klingt mittlerweile geradezu prophetisch. Die Kinder der Generation Häuslbauer, die Erben des Prinzips Nachbarschaftshilfe, die Nutznießer des Wirtschaftswunders Österreich verdrängen, dass gesellschaftliche Solidarität eine Hauptursache ihres Gutergehens ist. Das geht weit über jene Minderheiten hinaus, die jetzt in Verleugnung ihrer Geschichte den Separatismus pflegen: Katalanen,Venezianer und Flamen. Sie wollen nichts mehr an Andalusier, Sizilianer und Wallonen abgeben. So wie große Nationen oft ausblenden, wie sehr erst die anderen sie stark machen, so vergessen reiche Regionen, welch privilegierten Situationen sie ihre luxuriöse Lage verdanken.
//Die politische Großwetterlage – von „America first“ bis „Österreich zuerst“ – schafft erst den geistigen Brutkasten für Makro-Entkoppelungen wie Katalonien. Solche Abspaltungen wiederum bilden die gefühlsmäßige Basis für individuelle Entsolidarisierungen aller Art. Weg von der Union, weg vom Staat, weg von der Kammer, weg von einer sozialen Verantwortung auf Gegenseitigkeit. Stattdessen Prinzip Abschottung. Borders! Frontières! Confini! Grenzen! So lange es uns gutgeht, geht das gut. Und dann?