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DEZEMBER 2017

Ist’s schon vorbei?

Silvester ist für viele kein Knaller, sondern ein Böller, der neben dem
Ohr explodiert. Wir haben drei Silvester-Szenarien durchgedacht und festgestellt, dass das Fest der großen Erwartungen eigentlich nur enttäuschen kann.

Illustration: Monika Cichoń

Szenario 1

Die Hausparty

 

D

u denkst, du bist noch früh dran, als du um Punkt halb acht am verchromten Klingelknopf der Altbau-WG unweit der Innenstadt klingelst, doch die Bude ist schon rammelvoll. Auf einem fleckigen Ledersofa trinken die ersten bereits billigen Sekt. Der Gastgeber ist unauffindbar und du quetschst dich auf die Palettencouch neben einen Klugscheißer, der gerade unaufgefordert einen weltpolitischen Jahresrückblick vorträgt. Du verziehst dich nach einer Weile in die Küche, wo ein paar betrunkene Bleigießer sich nicht entscheiden können, ob es sich bei der silberglänzenden Figur um einen tibetischen Grunzochsen oder einen Penis handelt. Als du den Lokus aufsuchen willst, ist die Tür versperrt und nur ein herzzerreißendes Schluchzen dringt durch das dünne Holz nach draußen. Die Neujahrsmelancholie macht vor niemandem halt. Du bist jetzt selbst traurig und willst auf den Balkon, um eine zu rauchen. In diesem Moment zieht sich ein Irrer eine Verbrennung zweiten Grades zu, weil er eine Rakete aus der Hand starten lassen will. Als du noch vor elf gehst, begegnet dir im Treppenhaus die MÜG. 

Der Gast­geber ist unauffindbar und du quetschst dich auf die Palettencouch neben einen Klugscheißer.

Szenario 2

Der einsame Abend

S

chon seit Jahren hast du dir vorgenommen, es endlich durchzuziehen: Silvester alleine zuhause verbringen. Nur du, das Best-of-Hugh-Grant-Boxset, Vanilleeis und Eierlikör. Nach dem ersten Film schaltest du ab. Das Eis hat deinen Magen flau gemacht, die Flasche mit dem Eierlikör ist schon leer, du stellst dich leicht wankend ans Fenster und siehst vor der Nordkette schon die ersten bunten Lichter platzen. Deine Augen füllen sich mit Tränen und du beginnst wild und unüberlegt Textnachrichten an (Ex-)Freunde und Bekannte zu schreiben, doch niemand schreibt zurück. Du schaltest dein Handy schnell aus, machst dir eine Flasche Rotwein auf, kauerst dich in Embryonalstellung vor den Fernseher und bleibst beim Zappen am Silvesterstadl hängen. Der Weinkrampf lässt mit dem Wein nach, du beruhigst dich und du summst leicht mit. Während du sabbernd auf deinem flauschigen Wohnzimmerteppich einschläfst, scheint es dir, als ob Jörg Pilawas obere Gesichtshälfte weint, während er ab der Nase abwärts lacht. „Nicht alles glänzt, was Gold“, lallst du in den Flokati. 

Während du sabbernd einschläfst, scheint es dir, als ob Jörg Pilawas obere Gesichtshälfte weint, während er ab der Nase abwärts lacht.

Szenario 3

Feiern in der Innenstadt

 

D

u hast es nicht hingekriegt, den Silvesterabend so perfekt wie das übermotivierte befreundete Pärchen, das schon vor drei Jahren eine Hütte im Karwendel reserviert hat, zu planen. Verzweifelt füllst du wild schäumenden Sekt in eine PET-Flasche und stellst dich auf den Marktplatz in die Kälte. Du hattest schon immer Angst vor Menschenmassen. Getreu deinem Neujahrssatz, fröhlicher zu sein, grinst du aber heute auch, als dich jemand mit Glühwein anschüttet und anpöbelt. Ein Kichern entkommt dir, als kurz vor Mitternacht ein eisiger Wind aufkommt und du deine Zehen nicht mehr spürst. Du prustest deinen Sekt in alle Richtungen, als man zehn Sekunden nach Beginn des Feuerwerks die eigene Hand vor dem Gesicht nicht mehr sieht. Als dir in den Zehen wieder wärmer wird, weil sich jemand auf deine Schuhe übergeben hat, schlägt dein Lachen in ein quietschvergnügtes Kreischen um. „Frohes neues Jahr!“, schreist du, und umarmst fremde Leute vor Glück. 

Als dir in den Zehen wieder wärmer wird, weil sich jemand auf deine Schuhe übergeben hat, schlägt dein Lachen in ein quietsch­vergnügtes Kreischen um.