ZUR PERSON
Anne Siegetsleitner ist Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf mehreren Gebieten der Allgemeinen und der Angewandten Ethik, insbesondere in der Informations- und Medienethik (v. a. Schutz der Privatsphäre) sowie der Bioethik (u. a. Gen- und Reproduktionstechnologie, Schwangerschaftsabbruch). Siegetsleitner ist Präsidiumsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie sowie der Society for Wo-men in Philosophy Austria und Mitherausgeberin der Reihe „Angewandte Ethik“ des Karl-Alber-Verlags.
Die ganze Welt spricht davon, dass sich in Zeiten des Internets die Grenze zwischen privat und öffentlich verschoben hat. Wie schätzen Sie dies aus philosophischer Perspektive ein? Anne Siegetsleitner: Manche Grenzen verschieben sich. Jemand, der zum Beispiel schon einmal von der Stadt aufs Land gezogen ist, weiß, dass plötzlich viel mehr Privates im Umlauf ist und die Nachbarn, auch die entferntesten, viel über einen wissen. In der Stadt herrscht demgegenüber wieder mehr Anonymität. Beide Seiten haben Vor- und Nachteile. Gewisse Umbrüche haben sich in den letzten 20 Jahren entwickelt, gehen aber zum Teil auch wieder zurück. Zum Beispiel wird im Zug oder Bus viel weniger telefoniert als noch vor ein paar Jahren. Allerdings gibt es nicht nur eine Privatsphäre. Zur Privatsphäre gehören viele
unterschiedliche Bereiche wie Freundschaftsbeziehungen, Geschäftsbeziehungen oder auch Beziehungen zu Ärzten. Jede Person verfügt über ein sehr komplexes soziales Gefüge und in all diesen Beziehungen spielt Privatheit eine Rolle, aber in jeder Beziehung eine andere. Es ist nicht so, dass sich das Verhältnis zwischen privat und öffentlich verschiebt und die Privatheit dahin wäre, sondern in manchen dieser Beziehungen gibt es Veränderungen, die es aber immer schon gegeben hat. Ich wehre mich gegen einen zu großen Alarmismus à la „Jetzt ist die Privatheit weg, jetzt ist alles öffentlich“ – das glaube ich nicht.
Man spricht heute von der Ära der Post-Privacy. Ist Privates tatsächlich von gestern? Siegetsleitner: Das ist eine Bewegung, die entweder aus Resignation oder aus Zustimmung behauptet,
dass Privatheit und alles, was damit zusammenhängt – insbesondere der Datenschutz –, vorbei sind. In einem Interview im „Spiegel“ sprach eine der Vertreterinnen davon, dass Privacy „sehr Eighties“, also altmodisch und überkommen, sei und man sie deswegen nicht mehr benötige. Ich bin nicht der Meinung, dass es kein Privatleben mehr gibt. Man hat sich nur daran gewöhnt, zuhause hinter sich die Türe zuzuschließen oder in einem räumlich abgetrennten Büro arbeiten zu können. Es ist selbstverständlich, sich selbst so viele Möglichkeiten von Privatheit zu verschaffen, dass man diese gar nicht sieht. In manchen Bereichen gibt es sicherlich Verschiebungen, aber ganz ist sie mit Sicherheit nicht weg.
„Wenn man Snapchat verwendet, glaubt man, dass alles wieder gelöscht wird. Aber die Bilder sind nicht aus der Welt.“
Privates wird heute oftmals von der jüngeren Generation leichtfertig im Netz preisgegeben. Wie kann man die Jugendlichen vor möglichen Gefahren, die damit einhergehen, schützen? Siegetsleitner: Die Vorbildwirkung ist immer die beste Wirkung. Wenn die Eltern selbst sehr viel von sich im Internet preisgeben, werden die Kinder sie auch kopieren. Ohne die Vorbildwirkung wird es nicht gehen. Natürlich trägt auch die Erziehung einen großen Teil bei. Dies sollte teilweise durch Schulen geschehen, aber ich finde es nicht gut, dass immer alles den Schulen alleine aufgebürdet wird. Es ist wichtig, den Kindern und Jugendlichen bewusst zu machen, was passieren kann, und dass es Gefahren gibt, aber dies sollte sowohl seitens der Schulen als auch seitens der Eltern selbst geleistet werden.
Wo sehen Sie die größte Gefahr für Kinder und Jugendliche? Eine der größten Gefahren sehe ich in Fragen des Vertrauens. Zum Beispiel: Vertrauen völlig fremden Menschen zu schenken, wo eigentlich Misstrauen angebracht wäre. Grooming ist hier ein Begriff,
also das gezielte Ansprechen von minderjährigen Personen im Internet mit der Absicht, sexuelle Kontakte zu knüpfen. Es ist ganz essenziell, jungen Menschen zu lernen, ein gesundes Misstrauen zu entwickeln. Man sollte dies als Eltern auch mit den eigenen Kindern besprechen, auch wenn es vielleicht oftmals eine Scheu gegenüber solchen Themen gibt. Anderes Beispiel: zu viel Vertrauen in Freunde und Freundinnen haben. Der Begriff Sexting spielt hier eine Rolle, also das private Kommunizieren von sexuellen Themen und Bildern über das Smartphone. Wenn man zum Beispiel Snapchat verwendet, glaubt man, dass alles wieder gelöscht wird. Aber auch von einem über Snapchat versendetem Bild kann man einen Screenshot anlegen, und die Firma selbst behält die Bilder natürlich auch. Das heißt, die Bilder sind nicht aus der Welt. Nur weil man etwas schnell produzieren kann, ist es kein flüchtiges Medium in dem Sinne, dass es auch wieder schnell verschwindet. Das muss man sich immer wieder bewusst machen. Es ist immer auch eine Frage der Erziehung: Wem kann ich vertrauen und wem kann ich nicht vertrauen.
Die Kinder, die ein ge-sundes Vertrauen und ein gesundes Misstrauen gelehrt bekommen, sind definitiv im Vorteil und besser geschützt als andere.Was kann man als Einzelner tun, um sich zu schützen? Das Erste, was ich als Philosophin rate, ist, kurz innezuhalten und zu überlegen, ob man eine gewisse Information ins Netz stellt. Muss man diese Information über diesen Weg mitteilen oder geht das auch über andere Wege, in anderen Räumen. Datenvermeidung ist die Grundrichtlinie, wenn es um Datenschutz geht. Als Zweites rate ich, Alternativen zu nützen. Man muss nicht immer bei den großen Monopolisten dabei sein. Es gibt zum Beispiel alternative Suchmaschinen, die viel weniger Daten speichern, zum Beispiel Startpage oder DuckDuckGo. Obwohl ich eingestehen muss, dass das nicht immer leicht ist. Einige haben zum Beispiel versucht, mit WhatsApp von Facebook wegzukommen – und dann hat Facebook WhatsApp übernommen.
Vielen Dank für das Gespräch.