„Da gibt’s ein paar
schräge Sachen.“
Ernst Pavelka, Sanitäter und Archivar, Rettung Innsbruck
n einer Vitrine im Dr.-Otto-Kölner-Saal im Rettungshochhaus am Sillufer liegt ein Torso aus Pappmaché, der gut 120 Jahre alt ist. In den ersten Sanitäterkursen der Innsbrucker Rettung diente er zur Veranschaulichung der wichtigsten menschlichen Organe. „Da gibt’s ein paar schräge Sachen“, erzählt Ernst Pavelka nicht ohne Schmunzeln von den Methoden, mit denen man noch weit vor den ersten Sanitätskursen in Innsbruck versucht hat, Menschenleben zu retten: Die Rede ist von rektal eingeblasenem Tabakrauch, Riechsalzen oder akrobatischen Armbewegungen, die den Atemkreislauf simulieren sollten.
Ernst Pavelka ist Sanitäter der Österreichisches Rotes Kreuz Freiwillige Rettung Innsbruck und arbeitet als Archivar der Dienststelle systematisch die Geschichte der Innsbrucker Rettung auf. „Zur Feuerwehrgeschichte gibt es genug, zur Geschichte des Rettungswesens aber fast nichts“, weiß er. Kein Wunder, denn die historische Aufarbeitung des Gesundheitsdienstes ist ein breites Feld: Stadt- und Vereinsgeschichte treffen auf Kommunikations- und Sanitätstechnik, medizinisches Fachwissen auf militärhistorische Kenntnisse. „Die Innsbrucker Rettung ist ein zivilgesellschaftliches Projekt“, beginnt Pavelka die Geschichte der heutigen Ortsstelle am Sillufer zu erzählen.
„Dös brennt aber höllisch“
Allein 2019 gab es in Tirol über 130.000 Rettungseinsätze (ohne Krankentransporte). Anfang des 19. Jahrhunderts muss man im Unglücksfall einen Boten zum nächststationierten Arzt schicken oder sich von einem Lohnkutscher in die Klinik bringen lassen. Die ersten Rettungstrupps treten in der Stadt im Rahmen der Feuerlöschstatur von 1817 auf. Priester, Händler und Wundärzte haben im Brandfall die Aufgabe, Verwundete zu versorgen. 1857 wird die Freiwillige Feuerwehr Innsbruck gegründet und erst ein knappes Vierteljahrhundert später – 1881 – eine ihr unterstellte Sanitätsabteilung. In Innsbruck rückt die neue Abteilung zum ersten Mal bei einer Übung öffentlich auf.
Nach dem Wiener Ringtheaterbrand im Dezember desselben Jahres entsteht im ganzen Habsburgerreich ein Bewusstsein für den Rettungsdienst. 400 Menschen kommen im Schadensereignis, bei dem alles schiefgeht, was schiefgehen kann, ums Leben. Die von Leichen und Verletzten blockierten Türen gehen nach innen auf, die Feuerwehr, die zu dieser Zeit im Gegensatz zum Theater keinen Telefonanschluss besitzt, wird falsch alarmiert und rückt mit zu wenig Männern an.
Trotz der Katastrophe ist die Aufstellung der Innsbrucker Sanitätsmannschaft halbherzig: „Für diesen Zug hat man alte, ausgediente Feuerwehrmänner aufgestellt“, weiß Pavelka. Diese sind obendrein nicht besonders gut ausgebildet. In den Memoiren von Gründungsmitglied Leo Steiner liest man von der Reaktion eines Patienten auf die wenig zimperliche Behandlung einer Wunde: „‚Du, Peer, dös brennt aber höllisch‘. ‚Dös ischt schon recht‘, meinte Peer, ‚dös muaß so sein, dafür heilt's a guat und bald‘.“ Besagter Peer hat, wie sich später herausstellt, die Wunde versehentlich mit hochkonzentrierter Karbolsäure beträufelt.
„Zur Feuerwehrgeschichte gibt es genug, zur Geschichte des Rettungswesens aber fast nichts.“
Ernst Pavelka
Die Gründerväter.
„Leo Steiner wird immer als der Gründervater der Rettung dargestellt. Es ist aber nicht so, dass einer allein einen Rettungsdienst gründet“, versucht sich Pavelka gegen ein vorherrschendes Narrativ der Vereinsgeschichte entgegenzustellen. Im
Jahr 1897 holen die Herren Gustav Riegl, Leiter der Rettungsabteilung der Feuerwehr, und Branddirektor Viktor Baron Graff Dr. Otto Kölner als Korpsarzt ins Boot, um Sanitäter besser auszubilden. Weil man zusätzlich das Personal der Abteilung verjüngen will, engagiert man frisch vermählte „Steiger“ für den Rettungsdienst – unter ihnen Leo Steiner. Zur Erklärung: Steiger waren Feuerwehrmänner, die im Brandfall in Häuser stiegen, um Personen und wertvolles Mobiliar zu retten. Dieser Job gilt damals als so gefährlich, dass ihn nur ledige junge Männer ausführen dürfen.
Verjüngt und mit festen Verbindungen in den Gemeinderat tut sich die Sanitätsabteilung in den Folgejahren hervor. 1907 gilt heute als Gründungsjahr der Innsbrucker Rettung und die oben genannten Herren gelten als Gründerväter. Der Sonderstatus Leo Steiners mag daher rühren, dass er durch seinen späten Tod im Jahr 1964 alle anderen Gründerväter weit überlebt hat und außerdem das zweite Kind von Anna Steiner-Knittel ist – der realen Vorlage von Wilhelmine von Hillerns „Geierwally“. Pavelka hält Dr. Otto Kölner heute „mindestens genauso, wenn nicht wichtiger für die Gründung der Rettung“.
Rettung im Krieg.
Die Einsatzstatistiken der ersten Jahre der Rettung werden von Riss-, Schnitt-, Hieb- und Stichwunden, gefolgt von Knochenbrüchen, Verstauchungen, Verbrennungen, inneren Verletzungen und epileptischen Anfällen angeführt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind es insgesamt die beiden Weltkriege, die die größte Herausforderung für die Ortsstelle darstellen. Bis Ende des Ersten Weltkriegs werden über 60.000 Verwundete über den Innsbrucker Bahnhof transportiert. Der spätere Obmann Karl Kačičnik und seine damaligen Kollegen sollen zum Beispiel, als die Verwundeten der Isonzo-Offensive (1917) am Innsbrucker Bahnhof ankamen, drei Tage und Nächte durchgearbeitet haben.
„Leo Steiner wird immer als der Gründervater der Rettung dargestellt. Es ist aber nicht so, dass einer allein einen Rettungsdienst gründet.“
Ernst Pavelka
In den 1920ern lässt die Innsbrucker Rettung die Häuser in der Innsbrucker Wilhelm-Greil-Straße 23 und 25 bauen, in dem sich bis zur Eröffnung der heutigen Wache am Sillufer im Jahr 1970 der Hauptstützpunkt befindet. Hier betreibt die Rettung auch die Kammerlichtspiele, die bis 2000 als Kino weitergeführt werden. Auf Bildern aus der NS-Zeit stehen an den Foyerwänden des sich mittlerweile in den Händen der Stadt Innsbruck befindlichen Kinos Zitate von Propagandaminister Joseph Goebbels.
Ab 1938 wird im Archiv der ins Deutsche Rote Kreuz inkorporierten Innsbrucker Rettung „die Quellenlage sehr schlecht“, so Pavelka. „Man muss annehmen, dass aus der Nazizeit absichtlich Sachen vernichtet worden sind. Innerhalb der Rettung Innsbruck hat es Mitglieder mit nationalsozialistischen Tendenzen gegeben“. Sicher weiß man, dass einzelne Mitglieder nach dem Krieg wegen ihrer NS-Vergangenheit ausgeschlossen wurden. Im Krieg und in der Nachkriegszeit dürfen auch Frauen Fahrdienst machen –
später nur mehr als Dritte mitfahren. Erst 1988 werden sie männlichen Transportführern gleichgestellt. Trotzdem dauert es bis ins Jahr 2000, bis wieder eine Frau hauptamtlich angestellt wird. In der Geschichte des Rettungsdienstes sind Frauen lange Zeit marginalisiert worden, mittlerweile hat man als symbolische Geste bereits zwei Lehrsäle nach Frauen benannt – unter anderem nach Marie Gabriele Gräfin zu Lodron-Laterano. Die Krankenschwester hatte für ihren Einsatz im Ersten Weltkrieg die höchste Verdienstmedaille des internationalen Roten Kreuzes für Krankenpflegerinnen bekommen.
Das Wunder der Technik.
Welche Rolle der Krieg für die frühe Geschichte der Innsbrucker Rettung gespielt hat, sieht man im Zivilschutzraum im Keller der Wache, in dem heute ausgediente technische Geräte gelagert werden. Ein Satz deutscher Feldtelefone aus dem Zweiten Weltkrieg wird noch bei den Ambulanzen der Olympischen Spiele 1964 und 1976 verwendet. Das erste Sprechfunkgerät aus dem Jahr 1956 sieht von der Größe eher wie ein Kühlschrank als ein Kommunikationsmittel aus.
Die Exponate wirken im Keller etwas verloren. Laut Pavelka sei schon lange geplant, „dass man hier in der Wache ein Museum errichtet“. Noch beschränkt sich das Museum auf ein paar gut eingerichtete Vitrinen in den nach den Gründervätern benannten Lehrsälen. Kommendes Jahr allerdings soll in einem bereits dem Zweck gewidmeten Raum ein kleines Museum in der Wache entstehen. Auch im bereits angekündigten Neubau bekommt Pavelka jedenfalls mehr Platz „mit klimatisch günstigen Bedingungen für das Archiv“. Bis dahin lohnt ein virtueller Abstecher in das lesenswerte, von Ernst Pavelka verfasste historische Wiki des Roten Kreuzes Innsbruck.
Mehr Infos zur Geschichte der Rettung gibt es unter:
https://museum.roteskreuz-innsbruck.at