on 910 Verkehrsunfällen mit Verletzung im Jahr 2019 waren laut Innsbrucker Polizei an mehr als einem Drittel Radfahrer beteiligt. Der Anteil an Radlern in Innsbruck liegt je nach Erhebung zwischen 9,6 und 17 Prozent. „Die meisten Menschen fahren nicht Rad, weil sie Angst vor dem Autoverkehr, vor Fahrraddiebstählen oder vor schlechten Wetterbedingungen haben“, weiß Alec Hager von den Radvokaten. Seine Organisation setzt sich für eine Mobilitätswende im Zeichen des Fahrrads ein. Die Stadt Innsbruck beschäftigt zwei Fahrradkoordinatoren, die die Bedingungen für Radfahrer verbessern wollen. Für Koordinatorin Teresa Kallsperger ist die hiesige Fahrradkultur „ein Pflänzchen, das noch viel Wasser und Dünger braucht“. Seit Jahresanfang arbeiten Kallsperger und ihr Kollege Christian Schoder am „Masterplan zur Förderung des Radverkehrs“, der im November dem Gemeinderat vorgelegt wird. Um politisches Hickhack zu unterbinden, hat man von Anfang an eine „Mentoringgruppe“ unter Beteiligung aller Clubs eingerichtet. „Die Fetzen werden nicht fliegen“, hofft Schoder, „weil die Wünsche nach neuen Brücken und Unterführungen schon lange da sind.“ Damit der Dünger für ein zeitgemäßes Radkonzept nicht einfach Mist ist, braucht es in erster Linie viel Heu.
„Die meisten Menschen fahren nicht Rad, weil sie Angst vor dem Autoverkehr (…) haben.“
Alec Hager, Radvokaten
1. Zu wenig Geld
Für ein angebrachtes Radbudget würde Alec Hager bundesweit 300 Millionen Euro, also ca. 30 Euro pro Kopf, einplanen. In der Realität liegt der Österreichwert momentan bei 7 Euro, die Zahl der niederländischen Stadt Utrecht im Vergleich bei 70 Euro. In Innsbruck schwankte das Budget der letzten Jahre laut Fahrradkoordinatoren zwischen 500.000 und 700.000 Euro jährlich – selbst für Österreich pro Kopf ein eher mittelmäßiger Wert.
Mit dem neuen Masterplan Rad soll das Budget per annum „verdreifacht bis vervierfacht“ werden, so die Fahrradkoordinatoren. Angestrebt wird eine Summe von 20 Millionen Euro für die nächsten zehn Jahre allein für Lückenschlüsse und andere Baumaßnahmen.
Für das Thema Sicherheit und Bewusstseinsbildung komme noch etwas dazu.
Verkehrsstadträtin Uschi Schwarzl ist bereit, das bisherige Budget nach oben zu schrauben. Ihr Pressesprecher Paul Schuierer-Aigner bestätigt, dass die genannte Summe von 30 Euro pro Kopf „jedenfalls deutlich überschritten werden soll“ – sofern der Plan im Gemeinderat eine Mehrheit findet.
„Die Fetzen werden nicht fliegen.“
Christian Schoder, Fahrradkoordinator
2. Autofahrer als Norm
„Je höher die Geschwindigkeitsunterschiede, desto schwerer sind die Unfälle“, beurteilt Teresa Kallsperger den hohen Anteil an verunfallten Fahrradfahrern. Im Straßenverkehr herrscht oft das Recht des Stärkeren.
Alec Hager und die Radvokaten fordern deswegen schon lange eine „Flächenumverteilung vom Autoverkehr zum Radverkehr“, um gefährliche Stellen, die praktisch ausschließlich für den Autoverkehr ausgerichtet sind, zu entschärfen.
Diese gibt es in Innsbruck zuhauf, und Filipe Hauser von der Radlobby Tirol kennt sie alle. Grundsätzlich kritisiert er, dass man beispielsweise bei der Zeichnung von Fahrradstreifen immer nur „die Mindestmaße der Richtlinien und Vorschriften für das Straßenwesen verwenden würde“. Als zwei Musterbeispiele für fragwürdige Prioritätensetzung nennt er den Hauptbahnhof und die Anichstraße. Vor allem Ersterer sei „für Radler nicht geeignet“.
An beiden Orten dürfen Autofahrer bis zu 50 km/h fahren, in der Anichstraße gibt es neben einem großen Verkehrsaufkommen auch noch zahlreiche Parkplätze und Schienen mitten in der Fahrbahn. „Alles abseits des Innradwegs ist schlecht erschlossen“, findet Hauser. „Als Fahrradfahrer hat man selten Vorrang.“
3. Polizeikontrollen
Für Alec Hager sind Radfahrer nicht nur in der Raumverteilung, sondern auch rechtlich im Nachteil. „Man soll die Dinge gleichbehandeln, die gleich sind“, meint er und kritisiert, dass es in Österreich keinen Unterschied im Strafmaß zwischen motorisiertem Individualverkehr und Radlern gebe. In den Niederlanden sind die Strafen für Radfahrer in Relation zu den Autofahrern wesentlich niedriger. Hager hält es für „unverhältnismäßig, sich dem Radverkehr zu viel zu widmen, da sollte sich die Polizei lieber auf Geschwindigkeitsübertretungen von Kfz konzentrieren“. Zu den 30.000 Organstrafmandaten, die die Polizei in Innsbruck letztes Jahr verteilte, gibt es keine Aufzeichnungen, wie viele Radler und wie viele Autofahrer jeweils zahlen mussten. Fest steht, dass man heuer „aufgrund des zunehmenden Fahrradverkehrs vermehrt Augenmerk auf das Verhalten der Radfahrer gelegt hat“, wie ein Sprecher der Polizei mitteilt.
Zehn Fahrradpolizisten, die von Anfang März bis Ende Oktober im Stadtgebiet unterwegs sind, dürfen im Vergleich zu ihren Kollegen in den nördlichen Nachbarstaaten deftige Strafen austeilen. Telefonieren am Rad kostet 50 Euro, auf dem Gehsteig fahren 25 Euro, gegen die Einbahn sogar 35 Euro. Alkoholisierte Radfahrer über 0,8 Promille werden ausnahmslos angezeigt und haben mit einer Strafe von 800 Euro zu rechnen. Einzig der Führerschein darf Radlern vor Ort nicht abgenommen werden.
Für Filipe Hauser haben Radfahrer im Alltag auch mit einem Imageproblem zu kämpfen: „In der Politik haben Radfahrer den Ruf der Bösen, die sich nicht an die Regeln halten.“
„Man soll die Dinge gleichbehandeln, die gleich sind.“
Filipe Hauser, Radlobby Tirol
4. Lücken in der Infrastruktur
Über die Lücken im Innsbrucker Radnetz sind sich Experten und Fahrradkoordinatoren einig. Es fehlt eine Route über den Südring, eine Anbindung an den Hauptbahnhof und ein beidseitiger Innradweg.
Für den Südring fordert der Masterplan einen südseitigen getrennten Fuß- und Gehweg. Über den Bahnhof ist eine Brücke für Fußgänger und Radfahrer geplant, um den Stadtteil Pradl besser anzubinden. Am Innradweg ist zwischen Mühlauer Brücke und Rauch-Brücke ein südseitiger Durchstich bei den Barmherzigen Schwestern vorgesehen. Zusätzlich wollen die Fahrradkoordinatoren eine Brücke von der Kirschentalgasse zum Marktplatz. „Wenn wir keine gute Radinfrastruktur zur Verfügung stellen, dann werden wir es nicht schaffen, dass mehr Leute mit dem Rad fahren“, begründet Kallsperger die Großprojekte.
Weniger aufwendige Änderungen sind der Ausbau von Radabstellanlagen und Verleihsystemen, bessere Bodenmarkierungen und ein bereits entwickelter Leitfaden für Baustellen. Will man künftig eine Baubewilligung, muss man sich an einen gemeinsam mit der Baustellenkoordinatorin Martina Gura erarbeiteten Plan halten. Auch im Masterplan vorgesehen sind Tempo-30-Beschränkungen und Begegnungszonen.
„Wenn wir keine gute Radinfrastruktur zur Verfügung stellen, werden wir es nicht schaffen …“
Teresa Kallsperger, Fahrradkoordinatorin
5. Politische Reibereien
In der Innsbrucker Verkehrspolitik tun sich zwischen den Stadtparteien regelmäßig Gräben auf. Ende Mai schossen Oppositionsgegner, Koalitionspartner und der Tiroler WK-Präsident gleichzeitig gegen einen Corona-bedingt breiteren Gehweg in St. Nikolaus (6020 berichtete). Auch an der kürzlich eingeführten Begegnungszone in der Innenstadt hatten die Oppositionsparteien bereits einiges auszusetzen. „Viel Tamtam für wenig Neues“, skandierte etwa Neos-Gemeinderätin Julia Seidl in der „Tiroler Tageszeitung“.
„Die Zivilgesellschaft ist in den meisten dieser Fragen auf Seiten der Umwelt und der Verkehrsberuhigung“, sucht man im Büro von Uschi Schwarzl nach den richtigen Worten. Eine Radstadt Innsbruck steht und fällt letztlich mit politischem Konsens: „Bis in die 1970er waren auch Utrecht und Amsterdam Autofahrerstädte“, klärt Alec Hager auf, „in Wirklichkeit ist das eine politische Entscheidung gewesen.“
„Die Zivilgesellschaft ist in den meisten dieser Fragen auf Seiten der Umwelt und der Verkehrsberuhigung.“
Paul Schuierer-Aigner, Büro Uschi Schwarzl
Fahrradkoordinator Christian Schoder warnt vor einer Glorifizierung der Verkehrspolitik der Niederlande. Zwar gebe es dort das beste Radnetz der Welt, aber auch das dichteste Autobahnnetz. Mit öffentlichem Verkehr, Rad- und Fußwegen, ist Schoder überzeugt, „schlagen wir wahrscheinlich Utrecht“.
Gezeichnet von ewigen politischen Debatten bleibt das Büro der Verkehrsstadträtin etwas bescheidener. Die Entscheidung, Innsbruck zur Radfahrerstadt zu machen, sei „erst 30 Jahre später gefallen“. Wann und ob dieser Entscheidung Taten folgen werden, diskutiert der Gemeinderat im November.