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OKTOBER 2020

W e l c o m e S t u d e n t s

Gedanken eines Turnbeutelvergessers

Wer zum Studieren in die Alpenhauptstadt zieht, brennt im Normalfall für den Bergsport. Doch die Innsbrucker Leistungsschickeria hat mein Feuer über die Jahre hinweg erstickt.

Text: Maximilian Eberle | Illustration: Alina Klampfer

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ückblende: Ich stehe am Fuße des Patscherkofels im Startbereich eines Gebirgslaufs und mustere die Neonfaschisten, die mich umgeben. Sie haben die leuchtenden Socken bis zu den Knien hochgezogen, kein Haar ziert ihre Oberschenkel. Die vielen Funktionsshirts gleichen einer Trophäenhalle. Egal ob Erfurter Familienlauf 2012 oder Ötztaler Super-Ultra-Was-weiß-ich-Trail, jedes Finish wird mit Stolz auf der Brust getragen. Ich fühle mich in Badehose und Basketballtrikot wie der Typ im Sportunterricht, der immer seinen Turnbeutel im Bus vergessen hat.

 

Die Teilnahme an einem Trailrun 2017 sollte meine erste und einzige sportliche Errungenschaft in Innsbruck bleiben. Das Turnbeutelgefühl im Startbereich, das Nichtdazugehören, steht beispielhaft für meine sechs Jahre Aufenthalt in Innsbruck. Sport macht mir hier einfach keinen Spaß. In einer Stadt, in der sich Studierende schnell zu Triathletinnen oder Hochalpinisten radikalisieren, finde ich keinen Anschluss zum Peloton. 

 

Um in der Innsbrucker Gore-Tex-Sekte aufgenommen zu werden, muss man hohe Hürden überwinden. Ich stolpere in erster Linie über meine leere Geldtasche. Downhill-Bikes mit Ferrari-Scheibenbremsen, Skischuhe, die aussehen, als hätte sie die NASA entworfen, und eine Sportuhr, mit der man vermutlich seine Nierenwerte messen kann: Innsbrucker Studis verpulvern ihre Bausparverträge, damit sie auf der Nordkette nicht mit Schnee von gestern auflaufen.

 

Besonders die Multifunktionsuhr gilt als Szene-Essential, denn die Strecken müssen auf GPS-Apps wie Strava, diesem Instagram für Trinkrucksackbesitzer, für die Nachwelt konserviert werden. Instagram selbst spült im Minutentakt die tollen Ausflüge von Menschen wie Johannes (Dreadlocks, 27) auf den Bildschirm, der mit seinem umgebauten VW-Bus wieder mal zum Bouldern in die Dolomiten fährt. Mein Strava-Profil hingegen zeigt mir und der ganzen Welt die bittere Wahrheit: 20 Laufkilometer pro Jahr, Innsbruck-Tauglichkeit: mangelhaft.

 

Meine Freunde wollen mich nicht aufgeben und laden mich gelegentlich zu ihren Höhenmeterorgien ein. Was sie ignorieren: Während sie sich über Jahre hinweg bei Sonnenaufgangstouren zu Leistungsmaschinen stählten, absolvierte ich meine Sonnenaufgangstouren eher auf der Route Bögen-Kebabstand (0,5 km, 0 hm). 

Downhill-Bikes mit Ferrari-Scheibenbremsen, Skischuhe, die aussehen, als hätte sie die NASA entworfen, und eine Sportuhr, mit der man vermutlichseine Nierenwerte messen kann.

Besonders deutlich wird das, wenn ich mich auf eine Skitour traue: Bereits nach fünf Minuten Aufstieg schmecke ich das Eisen auf der Zunge und watschle im Tempo eines betagten Nordic-Walking-Enthusiasten der Gruppe hinterher. Die Freunde geben einen erbarmungslosen Schritt vor, und obwohl ich ihre Gesichter nicht sehe, weiß ich, dass ihre Lippen sich zu einem sadistischen Grinsen formen, wenn ich mich beinahe zur Bewusstlosigkeit keuche.

 

Wenn die Abfahrt auf dem nahezu senkrechten Steilhang ruft, frage ich mich: Soll das die Belohnung für die Qual sein? Ich stöhne ein zaghaftes „YEEHAW!“ von mir, während ich ängstlich einen Ski vor den anderen setze. Das machen sie so, die „Shredder“, wenn sie in die „Pillows droppen“, doch das Einzige, was ich ins Pillow droppe, sind die Tränen in der Nacht, wenn ich mich wieder über mein Versagen ärgere.

 

Zu allem Überfluss treffe ich jene Menschen, die mir beim Überholmanöver am Hang den „Pow Pow” ins Gesicht schleudern, auch noch beim Ausgehen. In Läden wie Jimmy’s oder John Montagu scannen sie meine Billigklamotten, während sie noch einen Schluck Mate aus der Flasche nehmen. Manche stellen gar Fragen wie: „Bist du eigentlich Skifahrer oder Snowboarder?”, als ob die Wahl des Fortbewegungsmittels auf Schnee ihr ganzes Wesen bestimmen würde. 

 

Auch vor den Trinkrucksackträgern ist man nirgends sicher. Auf der Alm leeren sie einen Jahresvorrat an alkoholfreiem Weizen, weil das ja ach so – und ich glaube, niemand weiß wirklich, was der Begriff eigentlich bedeutet – isotonisch ist. Dabei schmeckt ihr Getränk fast so seelenlos, wie sich ihre Gespräche anhören, wenn sie sich um ein paar Floskeln wie „Geil war’s!”, „Was für a Gaudi!” oder „Gewåltig!” drehen. Nachdem sie sich am Abend eine halbe Stunde lang auf ihrer Blackroll räkeln, ersetzen die Spitzensportler das Alkoholfreie durch zehn herkömmliche Biere, um sich dann gemeinsam auf einer ihrer maßlos überfüllten Fachschafts-/Balzpartys zu räkeln. 

 

Ich habe heute erkannt, was ich vor sechs Jahren noch nicht wusste: Dabei sein ist eben nicht alles in Innsbruck. Dabei sein heißt auch, akute Herzkasperlgefahr in Kauf zu nehmen oder eine Rolle aus Styropor im Wert von 25 € zu besitzen. Ich muss mir eingestehen, dass ich an der harten Tür des Innsbrucker Sportclubs scheitere. Meine Freunde müssen in Zukunft ohne mich die neue Bestzeit „ballern“ oder Abfahrten „senden“. Doch wie verhindere ich, dass ich nicht endgültig auf dem Sofa oder nachts in den Bögen verkümmere? 

 

Die Antwort lautet: Mut zur Einsamkeit! Ich muss mir meinen eigenen gemächlichen Weg durch die Innsbrucker Bergwelt bahnen. Zu Hause zu bleiben hat diese Stadt und ihre Umgebung einfach nicht verdient. Ich muss sie suchen, die goldene Mitte, irgendwo zwischen Trailrun und Netflix, zwischen Selbstoptimierung und -zurichtung. Meine Freunde kann ich dann trotzdem mit einem Weizen empfangen, nachdem sie die Nordkette hinab zur Höttinger Alm gespurt haben. Die Teil-ehmer-medaille vom Gebirgslauf an meiner Pinnwand erinnert mich zumindest daran, dass ich mal versucht habe, mitzuhalten.

Ich muss mir eingestehen, dass ich an der harten Tür des Innsbrucker Sportclubs scheitere.