Wie bist du auf die Idee gekommen, ein Buch über deine Erinnerungen zu schreiben? Gernot Zimmermann: Ich habe das einfach schon 1.000 Mal angekündigt. Wenn Fahrgäste zu mir gesagt haben: „Sie erleben sicher einiges!“, habe ich geantwortet: „Ja, da könnte ich ein ganzes Buch drüber schreiben.“ Als sich die Gelegenheit ergeben hat, dass es verlegt wird, habe ich losgelegt. Nicht zwingend, damit die Erinnerungen zum Buch werden, sondern einfach, damit sie erhalten bleiben.
Inwiefern war die Zeit als Taxifahrer prägend für dich? Das war sie eindeutig durch die vielen verschiedenen Menschen, die ich
chauffiert habe. Jeder Fahrgast war wie ein Brieflos: ein Leider-Nein oder ein Gewinn. Die interessantesten, wichtigsten Menschen in meinem Leben habe ich alle über das Taxifahren kennengelernt. Ich hätte zum Beispiel beinahe meine zukünftige Schwägerin überfahren. Sie hat mir mitten in der Stadt mit ihrem Mofa den Vorrang genommen, ich musste verreißen, die Reifen haben nur so gequietscht.
Ich bin ausgestiegen und habe durch ihren Sturzhelm nur ihre grünen Augen gesehen. Die haben mir gefallen. Ich hab zu ihr gesagt: „Zur Strafe musst du jetzt mit mir einen Kaffee trinken gehen.“ Wir waren ein Jahr lang ein Halb-Pärchen, eine Art Affären-Geschichte. Dann habe ich über sie ihre Schwester kennengelernt, und hab mich sofort unsterblich verliebt. Wir haben geheiratet und ein Kind zusammen bekommen. Dass unsere Tochter Nadja heißt, hat auch mit dem Taxifahren zu tun: Wir waren uns mit dem Namen nicht einig, ich wollte „Juliane“, nach meiner Oma, und meine Frau wollte „Nora“. Zu der Zeit, als meine Frau schwanger war, bin ich eher am Tag Taxi gefahren, damit ich nachts bei ihr bin. Da hatte ich einen Dauerauftrag: Jeden Tag um 12.15 Uhr habe ich ein Mädchen beim Rumer Kindergarten abgeholt und nach Innsbruck zu ihrer Mutter in die Dreiheiligenstraße gebracht. Die hat zu mir anfangs gesagt: „Mach dir nix draus, die Nadja redet nicht mit Fremden, mit Männern schon gar nicht“.
Kaum hatte ich sie aber im Auto, ist es losgegangen: Alle Lieder, alle Gedichte, die sie konnte, hat sie mir vorgetragen, bei jeder Kreuzung musste ich mich umdrehen und mit ihr ein Klatschspiel machen, und jeden Tag hat sie ungeduldig auf mich gewartet. Ich hab mir bei Nadja gedacht: Genau so ein Kind möchte ich auch, so ein offenes, aufgewecktes, das mit mir zusammen so lachen kann. Als unsere Tochter dann auf die Welt gekommen ist, haben wir sie auch Nadja genannt.
Warum warst du am liebsten nachts unterwegs? Es war nachts einfach viel aufregender. Man würde ja meinen, dass Innsbruck bei Nacht das Gleiche ist wie am Tag, nur ohne Licht. Dem ist aber gar nicht so. Nachts sind ganz andere Leute unterwegs, die Stadt riecht anders, hat einen anderen Klang, die Tiere übernehmen die Herrschaft, je später es wird – die Katzen auf den Straßen, Füchse kommen vom Wald her, die Ratten sind unterwegs, die Marder huschen einem vor das Auto. Die meisten Fahrgäste sind betrunken und reagieren eigenartig, kommen gerade vom Weggehen und sind gut drauf.
„Jeder Fahrgast war wie ein
Brieflos: ein
Leider-Nein oder
ein Gewinn.“
Gernot Zimmermann
Sind dir Unterschiede aufgefallen, wie sich das Nachtleben seit Anfang der 1980er-Jahre verändert hat? Die Schwerpunkte haben sich verlagert. Ab den 1990ern haben immer mehr Bogen-Lokale aufgemacht – die ganze Bogenmeile ist während meiner Zeit als Taxifahrer entstanden, 1983 gab es nur ein einziges Lokal dort: die Bier- und Weinschenke ganz oben, die wir im Taxler-Jargon „Stier- und Schweintrenke“ genannt haben, wegen dem Saufpublikum, das da ein- und ausgegangen ist. Dann haben die Studenten immer mehr Bögen für sich erobert. Allerdings haben sie im Taxi-Geschäft nie eine große Rolle gespielt – sie fahren ja eher mit dem Fahrrad heim oder gehen zu Fuß.
Viel mit mir gefahren sind aber zum Beispiel die Austauschstudenten aus New Orleans. Das war immer wunderbar, wenn die hier waren. Jeder einzelne von ihnen ist pro Tag mindestens dreimal mit dem Taxi gefahren – da haben wir ein Mega-Geschäft gemacht. Wir haben den Dollar damals mit 10 Schilling gerechnet, und auf einmal ist er auf 18 Schilling hinaufgestiegen. Für die war das trotzdem billig, für 6 Dollar eine Taxifahrt zu bekommen. Die waren lustig, voll auf Gas, auf Ausgehen, waren so jung wie ich und super, um Englisch zu üben.
Wo hast du das Ausgeh-Publikum vor der Bogen-Zeit abgeholt? In Igls bei der Diskothek „Happy Night“ zum Beispiel. Mitte der 1990er hat die dann zugemacht. Oder in Schönberg bei der „Stubaier Tenne“. Da hinaufzufahren war super, weil das eine 250-Schilling-Fuhr war, die in zehn Minuten erledigt war.
Hast du auch mal jemanden nicht in dein Taxi einsteigen lassen? Selten. Wenn die Person zu betrunken war oder von Anfang an nur gestänkert hat. Oder schon Spuren eines unbeabsichtigten Stoffwechsels auf sich hatte. Dass sich jemand übergeben muss, passiert ja wahnsinnig oft. Es war bei mir aber nie so, dass jemand ins Taxi gekotzt hätte. Immer nur hinaus. Dann bin ich einen kleinen Umweg gefahren zur nächsten Tankstelle und hab den Angekotzten mit Wasser abgespritzt. Ich bin eigentlich immer rechtzeitig stehen geblieben, weil ich gespürt habe, wenn jemandem schlecht war.
„Als Taxler hat man eine ‚Scharnierfunktion‘ zwischen der Halbwelt und unserer Welt.“
Gernot Zimmermann
Gibt es einen bedeutendsten Fahrgast in all dieser Zeit? Einen einzigen „Hauptfahrgast“ – nein. Ich hatte ein paar prominente Fahrgäste hinten drin, habe aber oft gar nicht genau hingeschaut. Um miteinander zu reden, muss man das ja nicht. Seine Fahrgäste anzuschauen ist ja als Taxifahrer ein absolutes No-go – immerhin fährt man gerade Auto. Erinnern kann ich mich aber natürlich schon an ganz viele besondere Menschen. Zum Beispiel habe ich einer Amerikanerin in den 1980ern einmal Innsbruck gezeigt. Anfangs hatte sie mich gefragt: „Do you speak English?“, und ich hab geantwortet: „Yes, but I’m not sure if you will understand.“ Sie hat gelacht und ist bei mir eingestiegen. Unterwegs habe ich erfahren, dass sie im Music Business arbeitet, sie war Talent Scout, und wir sind auf Frank Zappa gekommen. Ich war totaler Fan, sie hat aber nicht wirklich etwas von ihm gekannt. Also sind wir zu mir gefahren, damit ich ihr etwas vorspielen konnte. Sie ist sofort mitgegangen, obwohl es für sie ein wildfremdes Land, eine wildfremde Stadt und ein wildfremder Taxler waren. Dann haben wir Zappa-Platten gehört. Dieses Mitgehen oder Mitnehmen war bei mir immer ohne Hintergedanken. Ich hätte auch zum Beispiel nie die Betrunkenheit einer Frau ausgenutzt.
Hätte es da viele Gelegenheiten gegeben? Ja, natürlich. Einmal zum Beispiel habe ich eine Betrunkene sogar bis in ihr Bett gebracht, weil sie vor ihrer Haustür zusammengeklappt ist. Das war vielleicht was!
Ich stehe mit ihr auf dem Arm in ihrer Wohnung und trete die Tür zum Schlafzimmer mit dem Fuß auf. Im Schlafzimmer stand ihr Bett – mit einem Mann darauf, nur mit Unterhose auf der Bettdecke, beim Lesen. Er hat sich nur die Brille heruntergenommen, mich angeschaut und gesagt: „Bitteschön?“ Hätte er noch gefragt: „Was kann ich für Sie tun?“, wäre das Ganze ins Irrwitzige abgedriftet. Ich hab ihm alles erklärt, er wollte mich noch bezahlen, aber das hatte seine Frau schon erledigt, ich hab sie hingelegt und bin gegangen. Das hat schon fast ans Unerzählbare gegrenzt.
Was meinst du mit „unerzählbar“? Es sind mir Sachen passiert, die unerzählbar sind, weil sie dir einfach niemand glaubt. Diese Geschichten habe ich im Buch ausgelassen. Ich hab zum Beispiel besoffene Paare chauffiert, die mich gefragt haben, ob ich noch auf einen Dreier mit hinaufkomme. Da bin ich nie mitgegangen. Oder bei den Strichkatzen, also den Prostituierten, hat es für Taxifahrer etwas gegeben, das sich „Freistich“ nannte. Kann man sich ausrechnen, was das bedeutet. Hat man fünfmal einen Freier zu ihr hingebracht, hätte man einmal bei ihr frei gehabt. Ich hab das nie in Anspruch genommen. Aber in der Innsbrucker Unterwelt ein- und ausgegangen bin ich schon. Als Taxler hat man eine Scharnierfunktion zwischen dieser „Halbwelt“ und unserer Welt – die Menschen von beiden Seiten vertrauen dir.
Vielen Dank für das Gespräch.
DAS BUCH
Gernot Zimmermann:
„Eine Million Kilometer
durch Innsbruck”
(Wagnerscher Buchverlag)