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m Rande des Rapoldiparks, den man als Nicht-Pradler und Boulevardblatt-Leser als den Central Park von Innsbrooklyn kennt, ist es am frühen Nachmittag noch ruhig. Hinter dem 1970er-Flair verströmenden Kiosk, da stehen sie – zwei Schachtische und eine gepflasterte Schachfläche, schwarz-weiß kariert unter einem ungewöhnlich grauen Junihimmel. Zwei betagte Männer, die von ihrer Parkbank aus staunend („Das wäre ein Futter für die Zeitung, im Rapoldipark wird geturnt!“) einer jungen Dame beim Workout zusehen, scheinen auf jemanden zu warten. Auf die Frage, wo denn die Schachspieler vom Rapoldipark zu finden seien, entgegnet einer der beiden mit verschwörerischer Stimme: „Ich bin einer von ihnen.“
//Während wir noch miteinander plaudern, kommt ein weiterer Spieler dazu. Wie jeden Tag in den Sommermonaten nehmen die Herren pünktlich um 14 Uhr an den Schachtischen Platz und beginnen zu spielen. Viktor und Isidor stellen die Figuren auf. Ersterer kommt bereits seit rund 40 Jahren, als man dort ein Schachfeld auf dem Boden errichtete, hierher. Isidor ist seit seiner Pensionierung ein Dauergast unter den Spielern im Rapoldipark. Bei Schönwetter spielen sie im Park, bei Regen und sonstigem Unwetter übersiedelt man in das Seniorenstüberl in der Langstraße.
Hat dich der Willi geschickt?
Mit verschränkten Armen und Zigarette im Mundwinkel sitzen sie sich gegenüber, schenken sich nichts, können aber sagen, warum Schach nach all den Jahren immer noch seinen Reiz hat.
Isidor: Man tut sich ein bisschen betätigen ...
Viktor: ... damit wir nicht dement werden.
Kurze Zeit später hört man hinter den Spielern die Stimme von Franz, der sich nach Viktors in eine taktisch günstige Position bugsierte Dame erkundigt. Dann kommt Herbert mit einem großen Stück Melone im Gepäck an den Tisch. Gemeinsam eröffnen sie auf dem Nachbartisch eine neue Partie. Bevor ich mich zu ihnen setze, muss ich den Grund meines Besuches noch einmal erklären.
Herbert: Was, von den Grünen aus?
Redakteur: Nein, vom 6020 Stadtmagazin.
Franz: Hat dich der Willi geschickt?
Redakteur: Wie bitte?
Franz: Hat dich der Willi geschickt?
Redakteur: Nein, das 6020 Stadtmagazin.
Der neue Bürgermeister ist ein immer wiederkehrendes Gesprächsthema an den Tischen der Herren.
Als Herbert die Melone aufgeschnitten und jedem ein Stück angeboten hat, werden die Konversationen eingestellt: Immerhin spielt er gegen Franz, einen der Urgesteine der Schachrunde. 1966 kam er als Gastarbeiter von Kroatien nach Innsbruck und entdeckte bereits vor 40 Jahren auf einem Spaziergang mit seinen Kindern den Schachplatz im Rapoldipark. Die Partie wird abrupt von einem Mann, der vorbeikommt, unterbrochen: „Ausländer raus!“, richtet er an Franz, der lachend entgegnet: „Das ist mein größter Feind und mein Trainer im Schach. Er tut mich trainieren, aber sekkieren!“
//Konzentriert lassen Franz und Herbert ihre Finger über die gelben und braunen Figuren kreisen. Im weiß-gelblichen König steckt eine Kreuzschlitzschraube. Schließlich steigt Pepi von seinem E-Bike und an den Tisch, erkundigt sich nach dem Stand der Dinge, und bittet mich, dem Bürgermeister auszurichten, er möge sich einmal um die Radwege in Innsbruck kümmern. Einer der anwesenden Herren argumentiert, dass der Bürgermeister doch gar nicht Rad fahren könne (er es ihm aber beibringe, so er es denn wünsche), und dass die Grünen selbsterklärte und zugleich verdeckte Maoisten und Leninisten seien. Die Partie wird aufgrund einer heftigen Diskussion über Kommunismus pausiert.
Gespielt wird vier Stunden täglich, bis circa 18 Uhr.
Die Großen sind leider verstorben.
Am anderen Tisch hat bereits die zweite Partie begonnen. Wer hat die erste gewonnen? „Ja, der Chef natürlich“, verlautbart Isidor in gespielt gereiztem Ton und meint dabei – nomen est omen – Viktor. Tatsächlich zählt unter den Schachspielern nicht, wer am öftesten gewinnt. „Das geht einmal hin, einmal her. Es ist nicht wichtig. Man spielt und freut sich, dass man spielt“, weiß Viktor, der trotz der Ablenkung immer die Partie im Auge und offensichtlich unter Kontrolle hat. Schon als Schulbub hat er angefangen, Schach zu spielen. Heute spielt Viktor, genau wie die anderen, vier Stunden täglich, bis circa 18 Uhr, denn „der eine muss in den Garten gehen, der andere muss Kaffee kochen, der Nächste muss die Frau verwöhnen.“
//Nachwuchsspieler gibt es unter den Herren im Rapoldipark kaum. Ein paar Jüngere kämen manchmal vorbei, sie selbst würden aber immer weniger. Vor allem früher hätten ein paar ausgezeichnete Schachspieler unter ihnen Platz gefunden. Professoren und Direktoren, erzählt Viktor, hätten auf den Bänken gesessen, aber „die ganz großen Meister sind leider verstorben“.
Früher sei es generell ganz anders gewesen. Bis in den Winter hinein hätte man, nachdem man das Bodenfeld (die Tische kamen erst später dazu) freigeschaufelt hatte, Partien ausgetragen.
Das Geheimnis der zweiten Erde.
Von der Gründerzeit der Schachbruderschaft hat Herbert vom anderen Tisch nur aus Erzählungen erfahren. Der Pensionist kam erst vor zwei Jahren, nach einem schweren Autounfall, zur Rapoldipark-Runde, um sich zusätzlich zur Reha durch das Schachspiel wieder auf Vordermann zu bringen. Während Franz und Pepi über die Vorzüge eines E-Bikes diskutieren, erklärt Herbert seine Weltsicht. Die Geschichten der Bibel, so Herbert, hätten sich nicht nur tatsächlich, sondern gleich zweimal abgespielt. Für die Bürger dieser Erde hätte dies weitreichende Konsequenzen: „Das beweist, dass es eine zweite Erde gibt, eine Ur-Erde, auf der dann das zweite Leben stattfindet.“ Damit lasse sich nicht nur die gesamte Geschichte der Menschheit, sondern auch ein gewisses, nicht näher erläutertes Zeitproblem deuten.
Danach spricht Herbert von Apparaten und Altären in Tirol, die schon zu prähistorischen Zeiten errichtet worden sind.
Redakteur: Und das heißt, von Tirol aus sieht man die zweite Erde?
Herbert: Nein, nein. Die Überfahrt hat damals zweieinhalbtausend Jahre gebraucht.
Redakteur: Also jemand ist schon einmal von der einen Erde zur anderen gefahren?
Herbert: Noah und seine Söhne wurden von der anderen Erde mit dem Holzschiff, das er dort gebaut hat, von unserem Gott hergebracht. Das Schiff liegt immer noch auf 4.200 Metern am Berg Ararat unter Eis verschollen und ist circa 3504 vor Christus hier gelandet.
Herbert erzählt weiter, während der von Pepi wieder verlassene Franz ihm gegenüber ungeduldig die noch unbewegten Figuren beobachtet. Vermutlich wusste er bereits von der zweiten Erde. Als Herbert von Stonehenge erzählt, wird er unterbrochen. „Geh, Herbert!“, seufzt Franz und zieht als Erster. Das Gespräch verstummt und Partie Nummer zwei beginnt.
„Das geht einmal hin, einmal her. Es ist nicht wichtig. Man spielt und freut sich, dass man spielt.“
Viktor