Bist du in erster Linie Bergsteiger, Bergführer oder Meteorologe? Karl Gabl: In erster Linie mag ich die Berge. Das Bergsteigen kommt wahrscheinlich an erster Stelle und das Wetter in den Bergen wurde zu meinem Beruf. Allerdings möchte ich es nicht reihen, denn für mich ist es eine Einheit.
Welche Bergerlebnisse sind dir besonders in Erinnerung geblieben? Gefürchtet habe ich mich an der Ortler-Nordwand beim ersten Versuch, als es geschneit hat und in regelmäßigen Abständen von 20 Minuten richtige Pulverlawinen heruntergeschossen kamen. Damals haben wir unter Seracs biwakieren müssen und ständig diese Entlastungsbrüche im Eis gehört. Ganz beglückend war wiederum, als ich mit meiner Frau die Fischzuchtplatten an der Martinswand geklettert bin. Das war sehr berührend. Ebenso unsere silberne Hochzeit am Half Dome. Die Gelbe Kante oder die Egger-Sauschek an der kleinen Zinne waren sehr schöne Touren, wobei die zweite auch zum Fürchten war. Stolz bin auf meine Leistung am Noshak im Hindukusch, wo wir in zwei Tagen von 4.500 Meter auf 7.500 Meter aufgestiegen und dann mit den Skiern abgefahren sind. Damals war es der höchste Skigipfel und ein Weltrekord. Und erst vor vier Jahren war ich mit Stephanie, meiner zweiten Frau, bei Temperaturen um -27 Grad und einem Wind von 70 km/h auf dem Gipfel des 7.246 Meter hohen Dhaulagiri VII.
„Meine Prognosen gehen weit über eine Auskunft zu Schneefall, Wind und Temperatur hinaus.“
Wie wirkt sich deine alpinistische Erfahrung auf die Qualität der Prognosen für die Bergregionen aus? Viele wissen, dass ich Expeditionserfahrung habe. Ich habe etwa 50 Gipfel über 5.000 Meter bestiegen, bin zweimal an 8.000ern gescheitert – am Cho Oyu und an der Shisha Pangma – und habe auch selber Expeditionen geleitet. Meine Prognosen gehen weit über eine reine, unpersönliche Auskunft zu Schneefall, Wind und Temperatur hinaus. Ich helfe bei Fragen der Logistik, frage immer nach der verbleibenden Zeit, nach den Verhältnissen am Berg und im gewissen Sinn bin ich auch eine psychologische Stütze für die Bergsteiger.
Würdest du auch mal so weit gehen und versuchen, jemanden vom weiteren Handeln am Berg abzubringen? Ja, bei extremen Situationen schon. Zum Beispiel die Entscheidung der polnischen Expedition im Jahr 2008/2009 am Broad Peak. Zwei Monate waren sie im Basislager mit einer Durchschnittstemperatur von -25 Grad und haben es immer wieder probiert, dabei auch einige taktische Fehler gemacht. Schließlich habe ich ihnen den Windchill
ausgerechnet, der damals auf 8.000 Metern am Broad Peak -67 Grad betrug. Das hat ihnen sofort die Entscheidung erleichtert, ins „warme“ winterliche Polen zurückzukehren. Als Ralf Dujmovits und Gerlinde Kaltenbrunner zum ersten Mal am Kangchendzönga waren, hat das Modell fast einen Meter Neuschnee angezeigt. Da habe ich gesagt, ihr müsst jetzt sofort, aber wirklich sofort herunter. Am Lhotse habe ich aufgrund von Wind und Temperatur Ralf abgeraten, am geplanten Gipfeltag aufzusteigen. Eine Gruppe Kasachen ist an dem Tag aufgestiegen und die Hälfte der Mannschaft musste mit schwersten Erfrierungen nach Hause.
Die Wetterprognosen für Bergsteiger machst du ehrenamtlich und in deiner freien Zeit. Wer kann dich eigentlich anrufen? Jeder, der meine Unterstützung braucht. Da mache ich keine Unterschiede. Oft kenne ich die Bergsteiger, die bei mir anrufen, gar nicht persönlich.
Wie ist das überhaupt mit den Wettermodellen und warum sind die Prognosen oft so unterschiedlich? Die Modelle haben jeweils andere physikalische Ansätze. Das belastet mich bei den Prognosen für die Höhenbergsteiger.
Ein Modell zeigt einen sehr ergiebigen Niederschlag an, das andere nicht – was stimmt jetzt? Bei meinen Prognosen für Tirol war das nicht so schlimm, da konnte ich im Rundfunk sagen: „Leute, heute habe ich zwei Modelle, wenn ihr Regen wollt, dann nehmen wir das amerikanische Modell, und wenn ihr trockene Verhältnisse und etwas Sonne wollt, dann nehmen wir das europäische Modell. Sucht es euch aus, ich weiß es nicht.“ Bei Expeditionen ist das natürlich anders und da ist mir der persönliche Kontakt immer wichtig. Ich schicke nicht irgendwelche Dateien und Kurven per E-Mail ins Basislager, sondern bitte die Bergsteiger immer um einen Anruf. Im Gespräch erfrage ich dann das Wetter und vergleiche es mit den Modellen. Bestimmte Modelle betonen zum Beispiel eher die konvektiven Niederschlagsmengen von Schauer- und Gewitterzellen, während die anderen eher seicht darüber hinwegmodellieren. Wenn man eine Expedition drei, vier Wochen begleitet, bekommt man ein gutes Gespür dafür, welches Modell die wirklichen Verhältnisse wiedergeben kann.
Ein lokaler Bezug ist immer wichtig bei den Prognosen, wie kann ich jetzt von Tirol aus eine genaue Wettervorhersage für Patagonien oder Nepal erstellen? Heute viel einfacher als früher. Als ich 1978 beim Wetterdienst angefangen habe, waren die Wetterprognosen schlichtweg eine Katastrophe. Ich habe in Wien noch selbst mit einem Taschenrechner die Gitterpunkte von einem 500-Hektopascal-Feld, also die Wetterkarte von fünf Kilometern Höhe, für den nächsten Tag gerechnet. Erst mit den Computern wurde vieles möglich und heute ist die Vorhersage fünf bis sechs Tage im Voraus so gut wie früher die 24-Stunden-Prognose. Außerdem haben wir damals nur Teilausschnitte rechnen können und Daten von anderen Kontinenten hatten wir überhaupt nicht. Heute rechnen alle Modelle um den ganzen Globus herum. Wetterkarten für die entsprechenden Regionen gibt es im Internet und dort kann sich jeder den Verlauf des Jetstreams anschauen, was besonders für längerfristige Strategien wichtig ist. Das ist die relevante Frage bei Expeditionen: Wenn es jetzt nicht geht, wann geht es dann?
„Wenn die Indianer viel Holz ansammeln, dann wird der Winter streng.“
Wie wahrscheinlich sind Fehlprognosen? Das habe ich so nie untersucht. Wenn ich zum Beispiel nur den Wind betrachte, dann kann es schon sein, dass es einmal 60 km/h anstatt 40 km/h sind, aber sehr grobe Änderungen, zum Beispiel Hurrikanstärke mit 120 km/h anstatt von 40 km/h gibt es praktisch nicht mehr. Beim Niederschlag ist es kritischer. Als Ralf Dujmovits am Manaslu war, zeigte das Modell ein paar Zentimeter Niederschlag, am Ende waren es 60 Zentimeter in wenigen Stunden. Das kann natürlich sehr kritisch werden an einer steilen Flanke. Wenn Modelle solche Unterschiede aufweisen, sage ich das den Bergsteigern ausdrücklich und mahne sie zur besonderen Vorsicht.
Nach vielen Jahren, auch von wetterbedingten Unglücken geprägt: Wie ist deine Beziehung zum Wetter? Geprägt von Leidenschaft
und Respekt. Manche Leute unterschätzen, dass der Berg deine Erfahrung und deine Titel nicht kennt. Er schlägt gnadenlos zu, wenn man Fehler macht oder etwas nicht beachtet. Ich habe nicht nur Respekt vor den Lawinen, sondern auch ein vorsichtiges Verhältnis zu den sommerlichen Gewittern. Man weiß in der Früh zwar, dass es am Nachmittag heftig zur Sache gehen kann, aber man weiß nicht wo. Da ist Respekt mehr als angebracht.
Wie wird heuer der Winter in Tirol? Ich rufe da immer bei den Indianern in Nordamerika an, und wenn die viel Holz gesammelt haben, dann wird der Winter streng. Letztens war ich auf der Notkarspitze bei Garmisch und traf beim Heruntergehen einen Bauern, der gerade viel Holz aufschlichtete. Er fragte mich, wie der Winter wird, und ich erzählte ihm die Geschichte vom Indianer. Daraufhin sagte er, dass ich zukünftig auch ihn anrufen könnte!
So viel dazu. Es gibt langfristige Trends, die aber nicht mehr aussagen als: etwas zu warm, etwas über dem Durchschnitt, etwas unter dem Durchschnitt, zu feucht, zu trocken. Mehr ist nicht zulässig. Fünf bis sechs Tage im Voraus kann man eine gute Qualität bei den Prognosen bieten. Danach läuft das Modell der Natur oder die Natur dem Modell davon. Das ist gut so. Dieser Winter? Er wird ganz bestimmt sehr schön.
Vielen Dank für das Gespräch.
BUCHTIPP
Das autobiografische Buch „Karl Gabl: Ich habe die Wolken von oben und unten gesehen“ ist kürzlich im Tyrolia Verlag erschienen.
Zur Person
Dr. Karl Gabl, geboren 1946 in St. Anton am Arlberg, leitete mehr als drei Jahrzehnte die Wetterdienststelle Innsbruck, aus der er auch für den ORF berichtete. Der geprüfte Berg- und Skiführer initiierte den Alpenvereins Wetterdienst und setzt seit 2004 als Präsident des Österreichischen Kuratoriums für alpine Sicherheit bei der Unfallprävention im Bergsport maßgebliche Akzente. Seit 1977 unterrichtet Gabl die österreichischen Bergführeraspiranten in alpiner Meteorologie.