„Beim urban exploring geht es nicht zuletzt um Menschen – um Menschen, die nicht mehr da sind.“
. ist 19 Jahre alt. Vor einem Jahr hat sie etwas Neues für sich entdeckt: Das Gefühl, dort zu sein, wo niemand ist. Sie fand durch Zufall einen unverschlossenen Weg in ein aufgelassenes Lokal am Rande von Innsbruck. Getrieben von Neugierde, die größer war als die Angst, erwischt zu werden, wagte sie es, die verlassenen Räume zu erkunden.
//Hinter der unverschlossenen Türe eröffnete sich ihr eine völlig neue Welt, wie sie erzählt: „Natürlich war es aufregend und auch irgendwie gruselig, die düsteren Räume zu erkunden. Aber mindestens genauso einprägsam war, wie ruhig es war.“ Mit der Totenstille kam ein besonderes Gefühl: „So allein kann man im Alltag niemals sein. Diese Form von Einsamkeit erlaubt es, sich unheimlich frei zu fühlen. Dann bin ich an einem Ort, von dessen Existenz die meisten nicht einmal wissen. Und niemand weiß, dass ich dort bin. Es ist, als hätte man die Welt, in der man lebt, verlassen.“
Die Sucht zu entdecken.
Dieses Erlebnis war für R. erst der Anfang. Neugierig auf mehr, begann sie das Internet nach verlassenen Gebäuden zu durchforsten – und wurde schnell fündig. Aber ihre Recherche förderte noch etwas zutage: Sie war mit ihrer Leidenschaft nicht alleine. Auf der ganzen Welt gibt es Personen und Gruppen, die sich als „Urban Explorer“ bezeichnen: Erforscher des städtischen Raums.
//„Ein Großteil der Kommunikation läuft über das Web ab“, erklärt R., die inzwischen einen Blog führt. „Wir tauschen uns aus, suchen Orte und geben uns gegenseitig Tipps. So erfahren wir, wie man am besten einen Weg in das Objekt findet, was es zu sehen gibt und worauf man aufpassen muss.“ Inzwischen hat sie ein geschultes Auge entwickelt.
Leere Fenster, verwilderte Gärten oder eingeschlagene Scheiben sind Indizien für verlassene Bauten. Sicher zu gehen, dass man nicht in ein bewohntes Gebäude eindringt, steht dabei an erster Stelle. „Wir sind keine Einbrecher“, distanziert sie sich. Nicht zuletzt deswegen gilt für sie auch eine zweite unverrückbare Regel: „Ich zerstöre und verändere nichts. Weder beim Weg hinein noch an dem Ort selbst.“ Denn ihr, so wie dem Rest der Community, ist es wichtig, zu bewahren. „Verlassene Orte haben eine eigene Ästhetik“, erklärt sie. „Es tut jedes Mal weh, ein Objekt zu erkunden und die Spuren von sinnlosem Vandalismus zu entdecken.“
//Inzwischen ist R. mehrmals pro Monat unterwegs. Ihr Motiv ist, wie sie selbst sagt, der kindliche Trieb, den viele von uns bereits verlernt haben: die Neugierde, jeden Winkel zu erforschen und hinter jede Türe blicken zu wollen. Ihre Ausflüge beschränken sich schon lange nicht mehr auf den Innsbrucker Raum. Auch alte Fabrikgelände außerhalb der Stadt und nicht zuletzt militärische Anlagen aus den Weltkriegen haben es ihr angetan. „Man würde gar nicht meinen, wie viel verlassene Objekte es in Tirol noch gibt“, erzählt sie. „Selbst in Innsbruck entdecke ich immer wieder neue Orte. Und das, obwohl man meinen würde, dass gerade in einem Ballungsraum jeder Quadratmeter genutzt wird.“
Bewahren statt zerstören.
Zum Entdecken gehört für die meisten Urban Explorer auch die Dokumentation, wie G. erklärt. Viele von ihnen sind Hobbyfotografen. Gestellte Bilder sind für die meisten von ihnen tabu. „Mein Ziel ist es, den Status quo festzuhalten und mein eigenes Erleben zu dokumentieren. Deswegen verzichte ich, so weit es
irgendwie möglich ist, auch auf künstliches Licht“, erklärt G. Blitze oder Fotolampen würden das Bild nur verfälschen. Die einzige Lichtquelle, die er für seine Fotos nutzt, ist eine Taschenlampe. „Das ist nicht nur eine fotografische Herausforderung“, meint er. „Es verstärkt auch den Kontrast, den ich vor Ort erlebe. Ich will die Emotionen festhalten, die ich selbst erfahre.“ Manche Fotos veröffentlicht er dann im Internet. „Natürlich ist man stolz auf die eigene Arbeit“, meint G., „aber schlussendlich ist das ein Nebenprodukt. Beim Urban Exploring geht es nicht zuletzt um Menschen – und zwar um die, die nicht mehr da sind.“ So dienen die Fotos als Chronik der Abwesenheit. Sie zeigen, was dort geschieht, wo wir nicht mehr sind, wenn die geordnete Struktur zu zerfallen beginnt.
Die Ästhetik des Verfalls.
Auch N. ist fasziniert von dem, was einmal war. „Alte Häuser bezeugen den Wandel der Zeit“, meint sie. Ihr haben es vor allem verschnörkelte Stiegengeländer, Wandbemalungen und andere bauliche Details angetan, die es in modernen Gebäuden kaum mehr gibt. „Solche Verzierungen entwickeln eine völlig neue Form von Ästhetik, wenn sie dem Verfall ausgesetzt sind. Das Raue, Abgeblätterte, Vergängliche hat für mich eine ganz eigene Schönheit.“ Für sie ist es der Moment, in dem die aktive Nutzung aufhört und der Zerfall beginnt, der sie nicht mehr loslässt. „An solchen Orten, die gewissermaßen zwischen Leben und Tod stehen, macht sich eine gewisse Melancholie breit.“ So bringt die Erkundung von verlassenen Objekten auch Selbsterkenntnis mit sich: „Es geht nicht zuletzt darum, einen Blick auf die eigene Vergänglichkeit zu werfen.“
„Für mich ist es eine Möglichkeit, die Geschichte hautnah zu erfahren.“
Eine Geschichte des Kleinen.
Für T., eine weitere Urban Explorerin, stehen vor allem Spuren des täglichen Lebens im Vordergrund. „Wir haben die einmalige Möglichkeit, Personen, die nicht mehr da sind, in die Gegenwart zu holen“, erklärt sie ihren Zugang zum Urban Exploring. Auch wenn die Gebäude, in die sie sich wagt, verlassen sind, nimmt sie sie lange nicht als tot wahr – ganz im Gegenteil. „Der Raum lebt weiter, auch wenn die ehemaligen Nutzer ihn schon lange verlassen haben“, erklärt sie. „Man entdeckt immer wieder Einzelheiten. Einen zurückgelassenen Kaffeelöffel, einen Topf, der noch am Herd steht. Das alles erzählt eine Geschichte.“ Für sie gibt es nichts Spannenderes, als diese zu entdecken und daraus das Puzzle der Vergangenheit zusammenzusetzen.
Aufmerksam und Achtsam.
Sowohl N. als auch T. sehen es beinahe als ihre Pflicht an, die Stadt anders wahrzunehmen. „Urban Explorer entwickeln einen Blick für die Details, die sonst übersehen werden. Wir nehmen die Stadt anders war. Und alleine durch das Sehen von Dingen, an denen andere vorbeigehen, würdigen wir etwas, das sonst verloren ginge“, meint T. Auch wenn sie bei ihren Erkundungen in den Lebensraum anderer eindringt, hat sie kein schlechtes Gewissen. „Wir haben Respekt vor der Geschichte der Objekte, die wir erkunden“, meint sie. „Und durch unsere Beobachtungen und nicht zuletzt durch die Fotos, die wir machen, bewahren wir die Seele der Gebäude, in denen wir unterwegs sind.“
Die Eingeweide der Stadt.
So hat jeder Urban Explorer ein anderes Motiv, das er verfolgt. M., der selbst seit Jahren Touren unternimmt, hat es vor allem der Blick hinter die Kulissen angetan. „Für mich ist es eine Möglichkeit, der Stadt beim Wachsen zuzusehen und ihre Geschichte hautnah zu erfahren“, erzählt er. Urban Exploring beginnt für ihn schon im Kleinen. „Man kann bei einem einfachen Spaziergang Spuren dessen entdecken, was von der Stadt ‚überwuchert’ wurde“, beschreibt er. Einige besonders breite Straßenzüge, wie man sie zum Beispiel im Saggen findet, verraten, wo früher Straßenbahnlinien verlaufen sind. Und mit dem einen oder anderen Blick nach oben lassen sich verräterische Haken in Häuserfassaden entdecken. Sie markieren den Verlauf der Oberleitungen längst nicht mehr existierender O-Bus-Linien. Doch die wahren Schätze findet auch M. dort, wo normalerweise niemand Zutritt hat.
„Jede Stadt besteht aus viel mehr als dem, was den Bewohnern bewusst ist“, erzählt er. So liegen unter dem Innrain zum Beispiel kilometerlange Versorgungstunnel verborgen, die er schon erkunden durfte – in diesem Fall sogar mit Erlaubnis. „Bei Anlagen, die in Betrieb sind, fällt es oft relativ leicht, eine Genehmigung für eine Besichtigung zu erhalten“, meint er. „Bei aufgelassenen Gebäuden ist das meistens schwieriger – nicht zuletzt, weil es schlichtweg niemanden interessiert.“ Deswegen wählt er ebenso wie viele andere Urban Explorer oft den weniger legalen Weg.
Riskantes Hobby.
Als reinen Spaß verstehen die Urban Explorer ihre Touren aber nicht. „Viele Gebäude haben strukturelle Schäden“, erklärt M. „Dessen muss man sich bewusst sein. Es ist wichtig zu wissen, wie man sich bewegt und worauf man achten muss.“ Neben festen Schuhen und Taschenlampen gehören auch Handschuhe und Staubschutzmasken zur Standardausrüstung. „Und manchmal wäre es auch kein Fehler, einen Helm zu tragen“, fügt er hinzu – wenn er selbst nie einen dabei hat.
Dass sich Urban Explorer oft abseits der Legalität bewegen, ist ihnen klar. Während sich manche durchaus mit möglichen Konsequenzen auseinandersetzen, haben sich nicht alle mit der genauen Gesetzeslage befasst, wie M. einräumt. „Meiner Erfahrung nach interessiert es niemanden, was wir dort machen. Nicht umsonst sind die Objekte verlassen“, meint er. „Und wenn man erwischt wird, geht es nur darum, dass man verschwindet. Die Leute wollen uns ebenso wenig Schwierigkeiten machen, wie wir ihnen.“ Mit einem rechtlichen Nachspiel will er sich dann befassen, wenn es einmal so weit sein sollte. Nur weglaufen, das wäre ein großer Fehler, sagt M. „Lieber lasse ich mich erwischen und verjagen, als beim Versuch, unerkannt davonzukommen, Kopf und Kragen zu riskieren.“