„Das wahre Klettern ist für mich draußen am Fels.“
David Lama
Zusammen mit Conrad Anker brichst du bald wieder zum Lunag Ri in Nepal auf. Es ist euer zweiter Versuch an diesem bisher unbestiegenen 6.000er. Was wird diesmal anders?
David Lama: Letztes Jahr haben einige Fehlinformationen dazu geführt, dass wir umdrehen mussten. Wir stiegen ein mit der Wetterprognose für voraussichtlich zwei bis drei Schönwetter-Tage und wussten, dass wir alles auf eine Karte setzen müssen. Am Ende wurde das Wetterfenster doch kürzer und wir haben unser Biwakmaterial nicht mit hochgenommen. Das war sicherlich der große Fehler und auch das ganz große „Learning“. Jetzt kennen wir zumindest den unteren Teil bis auf die letzten 300 bis 400 Meter und haben dadurch eine noch genauere Vorstellung. Das ist ja das Spannende am Bergsteigen, dass man sich im Vorfeld vorstellt, wie man die Wand durchsteigen kann, und beim Klettern dann diese Vorstellung in der Realität überprüft. Es gibt immer ein paar Sachen, die unvorhersehbar sind.
Würdest du den ersten Versuch als Scheitern bezeichnen?
Ja, wir waren nicht am Gipfel. Klar. Aber nur, weil man am Projekt scheitert, heißt es nicht, dass man nur negative Erfahrungen mitnimmt. Im Gegenteil. Aus dem Scheitern lernt man in den meisten Fällen viel mehr als aus Erfolgen. Bei meinen Projekten gehört es einfach dazu, weil es Grenzgänge sind.
Kann man bei einem so anspruchsvollen Berg überhaupt vom „persönlichen“ Scheitern sprechen?
Ja, denn man kann Fehler machen. Das Scheitern ist nur dann sinnvoll, wenn man auch seine Erkenntnisse mitnimmt. Natürlich kann man viel Schuld auf das Wetter und die Verhältnisse schieben, nur unterm Strich hätte man es auch anders angehen können. Man muss immer unterscheiden zwischen dem Moment, in dem man umkehren muss, und dem Nachhinein. Schließlich haben viele vorherige Entscheidungen zu dem Moment des Umkehrens geführt, in unserem Fall waren es strategische Fehler. Wir waren auf ca. 6.500 Metern und mit der Entscheidung konfrontiert: Entweder wir drehen jetzt um oder wir verlieren Finger und Zehen, da wir kein Biwakmaterial und keinen Kocher dabeihaben. In diesem Fall gibt es nur eine klare Entscheidung und im Nachhinein ist es die einzig richtige. Später, mit etwas mehr Distanz zu dem Moment, steht natürlich immer mehr das Endresultat da, nämlich, dass wir nicht oben waren. Und da muss man sich mit den einzelnen Entscheidungen beschäftigen, die dazu geführt haben.
Der Amerikaner Conrad Anker ist eine Kletterlegende und auch um einiges älter als du. Wie seid ihr euch überhaupt begegnet und wie ist es, mit ihm unterwegs zu sein?
Bei einem Filmfestival habe ich Jimmy Chin kennengelernt, der zusammen mit Conrad (und Renan Ozturk) den Meru bestiegen hat.
Jimmy hat uns sozusagen connected. Ich habe natürlich gewusst, dass Conrad sehr spannende Erstbegehungen in Patagonien gemacht hat. Deswegen hatte ich ihn mal angeschrieben und so sind wir ins Gespräch gekommen. Kurz darauf haben wir im Zion eine Erstbegehung, die Conrad vor 25 Jahren angefangen hat, vollendet. Dabei sind auch ganz konkrete Pläne für Nepal entstanden. Den Altersunterschied merkt man, aber nicht in jeder Situation. Was ich Conrad fast am höchsten anrechne, ist, dass er nach so vielen Jahren noch immer so viel Spaß beim Klettern und Bergsteigen hat. Das ist nicht selbstverständlich.
Nach welchen Kriterien wählst du deine Projekte aus? Berg, Linie, Region? Sowohl als auch. Es gibt da keine Pauschale. Sicherlich sind es vor allem Erstbegehungen. Diese reizen mich am meisten, weil ich Erstbegehungen als den Kern des Bergsteigens sehe. Sehr viele Sachen, die in den letzten Jahren gemacht worden sind, reduzieren sich auf die Zeit oder die Schwierigkeit. Für mich sind das relativ messbare Dinge, die den Fortschritt in einer Sportart definieren. Nur ist der Fortschritt allein für mich zu wenig. Wenn man sich die Historie des Bergsteigens anschaut, dann geht es irgendwo immer um die Erstbesteigung, um den Entdeckergeist und das Abenteuer. Das ist eine ewige Konstante.
„Ich sehe Erstbegehungen als den Kern des Bergsteigens.“
David Lama
Du kommst vom Sportklettern und hättest auch darin deine Grenzgänge machen können. Gab es einen bestimmten Auslöser, dass du dich irgendwann dem Alpinismus zugewandt hast?
Für mich war weder das Wettkampfklettern noch das reine Hallenklettern etwas, das ich mein Leben lang machen wollte. Das wahre Klettern ist für mich draußen am Fels. Irgendwann sind meine Projekte im Fels immer größer geworden und es ist immer mehr der Faktor vom Abenteuer dazu gekommen. Ende 2010 habe ich mich entscheiden müssen, worauf ich den Fokus lege. Aber es war kein Schnitt, sondern ein fließender Übergang.
Was ist für dich besonders reizvoll am Alpinismus?
Es ist sicherlich der kreative Prozess, weil er mir die Möglichkeit gibt, mich selbst zu verwirklichen. Das geschieht durch meine Erstbegehungen und die Art und Weise, wie ich sie mache. Im Vergleich zum Sportklettern ist es sicher so, dass man beim Bergsteigen nicht nur körperlich, sondern im Gesamten mehr gefordert wird. Ich muss in allen möglichen Spielformen gut sein, um so einen Berg wie den Lunag Ri zu besteigen. Man muss in der Höhe funktionieren, im Felsklettern stark sein und genauso im Mixed-Klettern. Man muss Schneestapfen können, taktische Herausforderungen bewältigen und auch die Strategie spielt eine große Rolle. Allein, dass man als Team unterwegs ist und mit einem anderen Menschen etwas erlebt. Es geht um das Gesamtprojekt.
Welche Rolle spielt für dich Konkurrenz?
Ich würde sagen, keine besonders große. Zu Wettkampfzeiten hat sie sicherlich eine Rolle gespielt, beim Bergsteigen ist der Vergleich nicht unbedingt notwendig. Der Berg verändert sich, weil sich die Verhältnisse ändern und weil sich die Touren unterscheiden. Es ist nämlich ein Unterschied, ob man etwas als Erster macht, wo keine Informationen vorhanden sind, oder als Zweiter. Genauso ist es ein Unterschied, ob man es als Zweiter oder Dritter macht, denn allein schon die Tatsache, dass man weiß, dass etwas möglich ist, verändert im Kopf irrsinnig viel.
Bleibst du bei der Wahl deiner Projekte im Bereich des Möglichen oder reizen dich Ziele, die für andere als unerreichbar gelten?
Unterm Strich geht es immer darum, selber davon überzeugt zu sein, dass es möglich ist – und um nichts anderes. Wenn die anderen sagen, dass es nicht möglich ist, ist das irrelevant, so lange man selbst stark davon überzeugt ist, dass es geht.
Bist du immer überzeugt?
Ja. Ich gehe kein Projekt an, bei dem ich glaube, dass es nicht aufgehen wird. Dafür steht beim Bergsteigen zu viel auf dem Spiel, um einfach nur a bissl zu probieren.
Beziehst du dich dabei auf das Risiko oder auch auf andere Faktoren?
Ich glaube, da kann man alles dazuzählen, aber ganz sicher auch das Risiko.
Ich bin nicht bereit, einen Finger, einen Zeh, mein Leben oder das Leben meines Seilpartners zu riskieren, wenn ich nicht weiß: Dem Risiko steht etwas gegenüber, das man erreichen kann.
Ist es denn nicht manchmal schwierig, vom Wandfuß aus zu sagen, ob es möglich oder unmöglich ist?
Ja. Aber wie gesagt, wenn man davorsteht, stellt man es sich vor, und wenn es in der Vorstellung möglich ist, dann ist es absolut legitim einzusteigen. Die Vorstellung hängt natürlich stark von der Erfahrung ab. Ich glaube, mit meiner Erfahrung kann ich die Sachen gut einschätzen.
Ist Risiko für dich kalkulierbar?
Mehr oder weniger ja. Um Risiko kalkulierbarer zu machen, muss man zunächst die Gefahren erkennen und die sagen einem gewissermaßen den Endstand. Wenn ich weiß, da oben ist ein Serac, der jederzeit einstürzen kann, dann ist es nicht so gut, wenn ich drunter biwakiere. Mit diesem Wissen kann ich die Gefahren minimieren und damit auch das Risiko. Einige Sachen werden immer unvorhersehbar bleiben. Dann stellt sich die Frage: Ist es mir das wert?
Es ist am Ende also die Bedeutung des Projektes, die hinter der Entscheidung steht?
Es ist das, was als Wert dahintersteht.
„Die Tatsache, dass man weiß, dass etwas möglich ist, verändert im Kopf irrsinnig viel.“
David Lama
Wenn man den Spieß umdreht, dann zeigt genau diese Bereitschaft zum Risiko die Überzeugung vom eigenen Tun, die immer dahintersteht.
Ist die Besteigung der Nordostwand des Masherbrums im Karakorum noch immer dein großes Ziel?
Das ist ein Projekt, das ich schon zweimal probiert habe, einmal mit Peter Ortner und einmal mit Hansjörg Auer. Im Moment haben wir es ein wenig auf die Seite geschoben, trotzdem wollen wir da auf alle Fälle wieder zurück. Nur ist es im Moment – und das sagen wir alle drei – das schwierigste Projekt, das wir uns vorstellen können. Damit ist es für mich auch das größte Ziel und bis es nicht geschafft ist, kann ich mir nichts Größeres vorstellen.
Der Lunag Ri war nicht der einzige Beweggrund, nach Nepal zu reisen, es ging dabei auch um den Besuch des Heimatortes deines Vaters und die gemeinsame Reise mit deinen Eltern. Welche Bedeutung hat Nepal für dich?
Da muss man zuerst etwas zurückschauen, um das besser zu verstehen. Vor der Expedition mit Conrad war ich 15 Jahre nicht in Nepal. Insgesamt war ich zuvor drei Mal drüben mit meinen Eltern – 1993, 1995 und 1997 –, aber danach hat das Wettkampfklettern meine volle Aufmerksamkeit bekommen. Letztes Jahr habe ich mir gedacht, es wäre irgendwie schön, wieder dorthin zu fahren. Es war im ersten Moment sicher nicht so, dass es sich wie eine zweite Heimat angefühlt hat, was man sich vielleicht erwarten würde. Nur habe ich mit der Zeit, die ich drüben war, gemerkt, dass ich immer mehr Verbindung zu dem Land aufbaue. Das ist wohl mit jedem Land gleich, unabhängig davon, ob es die zweite Heimat ist. In Patagonien war ich jetzt auch schon sieben oder acht Mal und fühle mich dort mittlerweile wie daheim. Jetzt fahre ich zum dritten Mal innerhalb eines Jahres nach Nepal und merke ganz stark, wie eine enge Beziehung entsteht.
Vielen Dank für das Gespräch.
Filmtipp
Der Kurzfilm "Lunag Ri" über den ersten Besteigungsversuch von David Lama und Conrad Anker ist Teil der aktuellen "European Outdoor Film Tour 2016/2017", die am 12. November in Innsbruck zu Gast ist.