Wir empfehlen
MAI 2018

Die unfrisierte Wahrheit

Es ist der Ort, an dem alle Alters- und Gesellschaftsschichten zusammen­kommen: der Friseursalon. Dort „menschelt“ es wie kaum wo sonst. Und so ist es kein Wunder, dass zwischen Waschbecken und Trockenhaube oft die unglaublichsten Geschichten passieren. 6020 hat zwei, die seit Jahrzehnten die Schere schwingen, zum Interview gebeten.

Foto: Axel Springer
F

riseurmeisterin Andrea Berger ist 53 Jahre alt und gebürtige Salzburgerin. 2012 ist sie nach Tirol gezogen, seitdem leitet sie den Friseursalon „Red Level by Sturmayr“ in Innsbruck. Ihre Begeisterung für den Beruf hat sie an ihre Tochter weitergegeben, die ebenfalls Friseurin ist.

„Ich habe eine sehr gute Menschenkenntnis gewonnen"

Andrea Berger

6020:

Was war die denkwürdigste Geschichte, die du in deinem Job als Friseurin erlebt hast? Andrea Berger: Das war in Salzburg: Ich bediente zeitgleich zwei Damen, die in der Nähe voneinander saßen. Eine erzählte mir von ihrem Mann, der Pilot ist und den ich kannte, weil er ebenfalls Kunde bei mir war. Die zweite Dame erzählte mir, dass sie eine Affäre mit einem verheirateten Piloten angefangen hätte. Als sie seinen Vornamen erwähnte, wurde mir heiß und kalt gleichzeitig, und mir dämmerte, dass ich hier Ehefrau und Geliebte beinahe nebeneinandersitzen hatte. Um ein Aufeinandertreffen zu vermeiden, schickte ich eine Dame sofort in die andere Ecke des Friseursalons, und zwar mit dem Vorwand, sie müsse dringend unter die Wärmehaube. Auf ihren Einwand, sie müsse doch sonst nie unter die Haube, entgegnete ich sehr bestimmt: „Heute aber schon.“

Gibt es Geschichten, über die du heute noch schmunzeln musst? Da war ein älterer Kunde. Ich beginne mit der Beratung, da höre ich, wie er immer mal wieder leise etwas von einem Pepi murmelt. Irgendwann habe ich mich nicht mehr ausgekannt und zu ihm gesagt:„Ich kenn einen Josef, ich kenn einen Joe, aber ich kenn keinen Pepi.“ Daraufhin hat er etwas verschämt gestammelt, er meine mit Pepi ein Toupet, ob ich so etwas habe. Ich habe mich entschuldigt und ihn in ein Perückengeschäft geschickt.

 

Gibt es weitere Kunden, an die du dich immer erinnern wirst? Es gab mal einen männlichen Anrufer, der nach Höschen gefragt hat. Ich habe allerdings immer Röschen verstanden und habe ihn an ein Blumengeschäft verwiesen.

„Einmal bin ich zur Lebensretterin geworden."

Andrea Berger

 

Gab es auch mal Drama im Friseursalon? Einmal bin ich zur Lebensretterin geworden. Eine ältere Kundin von mir sitzt gerade unter der Trockenhaube. Plötzlich fällt mir auf, dass sie ganz weiß ist und blaue Lippen bekommt. Ich habe sie gleich rausgebracht und die Rettung gerufen. Die ältere Dame hatte einen Herzinfarkt, ist aber wieder gesund geworden. Eine weitere Kundin von mir hatte mal einen epileptischen Anfall und ist mir direkt in die Arme gefallen. Zum Glück war die Kundin neben mir Notärztin, das ist also auch gut ausgegangen.

Für viele ist der Friseur fast schon ein Psychologen-Ersatz. Warum erzählen wir dem Friseur während des Haaremachens so viel? Wir berühren die Menschen am Kopf und zwar an Stellen, an denen sie oft sonst niemand berührt.

Dieses Eindringen in die Intimsphäre fördert das Vertrauen. Der Kunde lässt den Friseur ganz nah an sich ran und das im wahrsten Sinne des Wortes. Dazu kann ich auch Folgendes erzählen: Beratungen führe ich zunächst immer auf Augenhöhe, wenn ich aber merke, dass der Kunde aufgeregt ist, stelle ich mich hinter ihn und berühre ihn am Kopf oder auf der Schulter, das beruhigt die meisten sofort.

 

Welche Kunden nerven dich? Ein bisschen nervig ist eine Kundin, die mir immer spätabends per WhatsApp-Nachricht schreibt, wann sie zu kommen gedenkt. Ich weiß gar nicht, woher sie meine private Handynummer hat. Die Kundin ist Richterin, deswegen habe ich ein wenig Angst vor ihr und sage nichts zu dieser recht ungewöhnlichen Termin-Ausmacherei.

W

erner Degler (48) ist Friseurmeister in der dritten Generation. Zu Degler Hair-Art gehören fünf Friseursalons, darunter der größte Herrensalon Tirols. Sein Großvater Otto Degler hat 1934 einen der ersten Friseurbetriebe Innsbrucks eröffnet.

„Wir Friseure sind neutrale Zuhörer.“

Werner Degler

6020:

Was war die aufsehenerregendste Geschichte, die bei euch im Salon passiert ist? Werner Degler: Das war sicherlich der Bräutigam, der sich nicht traute. Es war vor etwa 15 Jahren. Wir haben eine Braut und ihre Begleiterinnen frisiert und geschminkt. Sie hatte bereits das Kleid an, als plötzlich ihr Bräutigam reinkam und erklärte, dass es keine Hochzeit geben werde, weil mit den Formularen etwas schiefgegangen sei. Was er nicht wusste: Mein Geschäftspartner Wolfgang Lunzer kennt den Chef der Innsbrucker Standesbeamten sehr gut und hat sofort telefonisch nachgefragt, was denn genau los sei. Der Standes­beamte

erklärte ihm, dass es keinerlei Formular-Schwierigkeiten gebe, allerdings sei die Hochzeit bereits vor einigen Tagen vom Bräutigam abgesagt worden. Wir haben dann den Bräutigam beiseite genommen und ihn gefragt, was los sei. Er gab die Lüge zu und meinte, er liebe seine Freundin nicht mehr und möchte deswegen alles absagen. Man kann sich vorstellen, was sich dann für Szenen bei uns im Friseursalon abgespielt haben. Meine Mama hat gemeinsam mit anderen die Braut beruhigt und sie darin bestärkt, das Fest ohne ihn durchzuziehen. Das hat die Braut dann auch gemacht. Die Beziehung der beiden war damit beendet. Es gibt dennoch ein Happy End: Die Braut ist inzwischen mit einem anderen glücklich verheiratet. Den Bräutigam haben wir danach allerdings nie mehr gesehen.

„Ich könnte ein buch schreiben.“

Werner Degler

 

Fällt dir eine weitere lustige Geschichte ein? In unserem Herrensalon gibt es keine Termine. Einmal waren zwei Pensionisten da, die, als ich frühmorgens das Geschäft aufschloss, beide behaupteten, als Erster da gewesen zu sein. Die beiden gerieten in einen richtigen Streit. Einer der beiden war so erbost, dass ihm beim Reden ständig das Gebiss rausflog. Ich verwickelte sie so lange in ein Gespräch, bis einer meiner Angestellten Dienstbeginn hatte und bei der Tür reinkam. So war jeder Herr als Erster dran, einer bei mir, einer bei meinem Kollegen. Die Wogen glätteten sich, sie waren zufrieden, und das Beste war, dass sie danach beschlossen, gemeinsam auf einen Kaffee zu gehen.

Was war das Dramatischste, das bei euch passiert ist? Wolfgang hatte einen Kunden, der nach einem Friseurbesuch bei uns nach Linz gefahren ist und dort drei Morde begangen hat. Da Wolfgang der letzte war, der ihn vor den Straftaten gesehen hat, musste er nach Linz fahren, um eine Aussage bei der Polizei zu machen. Wir waren natürlich geschockt, vor allem weil wir bei diesem Kunden nie geglaubt hätten, dass er zu so etwas fähig sein würde.

 

Kaum jemand hat so viel Kontakt mit ganz unterschiedlichen Menschen wie der Friseur, wie anstrengend empfindest du deinen Beruf? Friseur zu sein ist der schönste Job der Welt und macht glücklich. Das sagen auch Studien: Bei Zufriedenheitsskalen sind Friseure immer ganz vorne mit dabei. Wir schenken Aufmerksamkeit und machen Menschen schön. Es gibt doch nichts Besseres.