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MÄRZ 2016

Coverstory

Nichts als die Wahrheit

Kaum ein Thema ist so mit Vorurteilen und Mythen behaftet wie die Flüchtlingsdiskussion. Wir haben uns einige davon angeschaut und sie auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft.

Illustration: Monika Cichoń
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s ist nicht verwunderlich, dass ein Thema wie die Flüchtlingsdebatte ein Nährboden für Vorurteile ist. Weil es einfach ist. Weil es um das „Fremde“ geht und es menschlich ist, Ängste vor dem Unbekannten zu haben. Also greift man auf Stereotype zurück. Wir verallgemeinern, übertragen das Verhalten einer Person auf das der ganzen Nation, sind leichter gewillt, Gerüchten Glauben zu schenken. Aus Gerüchten entstehen Mythen, die von bestimmten Gruppen, Personen oder Parteien als Fakten dargestellt werden.

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Mythen zum Flüchtlingsthema gibt es en masse. Auch in Innsbruck ist eine ganze Menge in Umlauf. Sie entspringen den unterschiedlichsten Quellen und verbreiten sich über Medien, die Imbissbude und vor allem Social-Media-Kanäle, wobei die Anzahl von „Likes“ ultimativ darüber entscheidet, ob Gerüchte zu selektiven „Wahrheiten“ werden. 6020 hat einige Mythen auf ihren Wahrheitsgehalt untersucht.

MYTHOS 1:

Auf unsere Kosten leben Asylwerber in Saus und Braus. 

Weit verbreitet ist der Mythos, dass Asylsuchende eine Mindestsicherung bekommen und grundsätzlich auf Kosten des österreichischen Staates gut leben. Fakt ist: Eine Mindestsicherung bekommen sie nicht. „Als Asylwerber, also in der Phase, wenn sie auf den Bescheid des Staates warten, sind sie in der Grundversorgung“, erläutert Jürgen Gschnell von der Caritas Tirol. Für die Grundversorgung in Tirol ist die Tiroler Soziale Dienste zuständig. Sie versorgen die schutzsuchenden Menschen mit Unterkunft, einer Rechtsberatung, medizinischer Versorgung und Deutschkursen. „Wir haben 170 Heime in Tirol, 160 davon sind Selbstversorgerheime, in denen Essen selbst gekauft und zubereitet wird. Dafür bekommt eine Person 240 Euro im Monat. Die Alternative dazu sind die Vollversorgerheime mit Vollpension. In dem Fall gibt es monatlich 40 Euro Taschengeld pro Person“, erklärt uns Georg Mackner von der Tiroler Soziale Dienste GmbH. Zudem bekommen die Asylwerber zweimal im Jahr Bekleidungsgeld in der Gesamtsumme von 150 Euro und Schulgeld für Kinder bis maximal 150 Euro im Jahr. Mehr nicht.

MYTHOS 2:

Allesamt faul!

Den ganzen Tag liegen sie rum und haben gar nicht die Absicht zu arbeiten – so das Vorurteil. Wie sieht die Wirklichkeit aus? „Nach der österreichischen Rechtslage ist es für einen Asylwerber gar nicht möglich zu arbeiten“, erzählt Irene Pilshofer von der Plattform Rechtsberatung. „Nach drei Monaten und erst nach Zulassung zum Verfahren um Asyl haben Flüchtlinge die Möglichkeit, um eine Beschäftigungsbewilligung anzusuchen. Sie können theoretisch und nur in einem sehr eingeschränkten Bereich, wie beispielsweise in der Saisonarbeit, arbeiten“, so Pilshofer. Auch die Tiroler Soziale Dienste GmbH wird oft mit diesem Vorurteil konfrontiert: „Sie versinken in ihrer Lethargie, heißt es“, erzählt Georg Mackner. „Daher versuchen wir ihnen über die Möglichkeiten, die wir haben, beispielsweise im Gemeindebauhof Beschäftigung zu verschaffen. Für Frauen organisieren wir Treffen zum gemeinsamen Stricken, Nähen oder Sticken. Und es gibt den Deutschunterricht. Aber natürlich, für Außenstehende wirkt es oft, als würden sie nichts tun. In Wahrheit ist es so, dass sie zum Nichtstun verdonnert sind.“

MYTHOS 3:

Mit Smartphones beschenkt.

Wie kommt es, dass die meisten Flüchtlinge ein Smartphone besitzen? Ganz sicher bekommen sie diese vom Staat oder der Caritas geschenkt. Das hört und liest man immer wieder. Die Fakten dazu: Keine staatliche Einrichtung kauft den Asylwerbern Mobiltelefone. Meist haben sie diese mitgebracht, um mit ihren Familien in Kontakt zu bleiben und vernetzt zu sein. Das würde jeder von uns wohl genauso tun. „Dass die Menschen flüchten, heißt noch lange nicht, dass sie in ihrem Land nichts hatten“, erklärt Jürgen Gschnell. „Der Flüchtling hat überhaupt ein mit Vorurteilen behaftetes Antlitz und wird per se als arm, hilfsbedürftig und schlecht gebildet gesehen“, sagt Irene Pilshofer. Klar, dass ein Smartphone da nicht ins Bild passt. Aber auch in Syrien gibt es elektronische Geräte aller Art.

MYTHOS 4:

IVB-Tickets für alle Asylwerber!

Die Stadt Innsbruck schenkt allen Asylwerbern IVB-Monatskarten, so das Gerücht. Die Sachlage? Ja, die Stadt unterstützt die Mobilität der Asylwerber. 37 übertragbare Tickets werden pro Monat zum vergünstigten Preis bei der IVB eingekauft und an die Flüchtlingsheime in Innsbruck verteilt. Die Bewohner können sich diese dort ausleihen und nutzen. Die IVB unterstützt die Mobilität der Asylwerber zudem mit einer Ausnahmeregelung für ausgewählte Gruppenausflüge, die im Voraus und mit verbindlichen Zeitangaben von einer Begleitperson angefragt werden. „Ich halte es für sehr sinnvoll, den Menschen Mobilität zu ermöglichen, besonders für die Integration“, erklärt Irene Pilshofer. Mit 40 Euro Taschengeld gäbe es wenig Spielraum dafür. Und selbst mit 37 Tickets für insgesamt 2.900 Asylwerber in Innsbruck stimmt der Mythos noch lange nicht.

MYTHOS 5:


Sie wollen sich nicht integrieren.

Immer wieder liest man, dass Asylwerber gar nicht Deutsch lernen wollen. „Stimmt nicht“, sagt Georg Mackner von der Tiroler Soziale Dienste GmbH. „Die Motivation, an den Deutschkursen teilzunehmen, ist im Regelfall sehr groß“, erklärt er. „Wer in Österreich bleiben und sich an dem Wirtschaftsprozess beteiligen möchte, ist sehr motiviert. Mit Deutschkenntnissen kann man sich besser in der Arbeit artikulieren und die Chancen für das Verfahren verbessern.“ Die Sprache ist zudem ein wesentlicher Aspekt für die Integration, zu Beginn jedoch eine nicht zu unterschätzende Schwelle.

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In Hinblick auf die Integration muss man sich zunächst die Frage stellen, was überhaupt damit gemeint ist. „Meint man damit Assimilierung und Anpassung, so ist klar, dass es für jeden Menschen schwierig ist, wenn von ihm erwartet wird, in einer Gesellschaft möglichst nicht aufzufallen“, sagt Irene Pilshofer. „Wenn wir unter dem Begriff eine Form des guten Zusammenlebens und Teilnahme am kulturellen Geschehen und Gemeinschaftsaktivitäten verstehen, so hat es viel mit Zugang zu tun, nämlich, wie aufnahmebereit die Gemeinschaft für Neuankömmlinge ist“, erklärt sie. „Man wünscht sich vielleicht, dass sie an allem, was ich täglich mache, einfach teilnehmen. Darüber hinaus vergisst man oft, dass keine Einladung ausgesprochen wurde.“

Das Fazit.

Die Liste der gängigen Mythen ließe sich noch endlos erweitern. Den Flüchtlingen wird vorgeworfen, sie seien feige, kriminell, sie würden Essen wegwerfen und Markenmode tragen, sie würden Krankheiten mitbringen und uns islamisieren wollen. Sie wären allesamt Wirtschaftsflüchtlinge und würden uns demnächst überschwemmen. All diese Gerüchte spielen mit den Ängsten und Unsicherheiten in der Gesellschaft. „Sie sind wie ein Pulverfass“, bekennt Jürgen Gschnell. Sicherlich begünstigen sie nicht die allgemeine Stimmung und das Zusammenleben. Und ja, es wird den einen oder anderen Vorfall geben, der einem Flüchtling vorzuwerfen ist. Daher ist es wichtig zu differenzieren.

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„Wir reden von Flüchtlingen, als wären sie eine homogene Gruppe von Menschen. Das sind sie aber nicht“, sagt Mandeep Lakhan, Obfrau der Tiroler Gesellschaft für rassismuskritische Arbeit (TIGRA). „Sie haben unterschiedliche Fluchtgründe, unterschiedliche Erlebnisse und unterschiedliche Bedürfnisse.“ Irene Pilshofer glaubt fest daran, dass, „so lange man den Kontakt sucht, offen bleibt, differenziert und hinterfragt, die Mythen sich von selbst entkräften.“ Nun liegt es an uns.