n der Innstraße trennen neue Poller und Blumenstöcke seit Anfang Mai nicht nur einen erweiterten Gehsteig von der Fahrbahn, sondern spalten auch die Gemüter der Bewohner und Geschäftsinhaber von St. Nikolaus. „Reine Parkplatzvernichtung, eine Provokation der Grünen Stadtregierung“, nennt es ein Anrainer. „Es ist gut, wenn die Fußgänger mehr Platz haben“ meint der Besitzer eines Cafés. Die Diskussion ist eine alte, die Situation völlig neu:
Bei den infrastrukturellen Maßnahmen in der Innstraße, aber auch in der Innallee und der Angerzellgasse, wo man seit Anfang Mai auf der Fahrbahn gehen darf, handelt es sich im weiteren Sinn um Maßnahmen gegen Covid-19. In einem ersten Schritt hat man versucht, Gehsteige der Landeshauptstadt „nicht baulich, sondern optisch zu verbreitern, um Platz für Fußgänger zu machen“, erklärt Vize-Bürgermeisterin und Mobilitätsstadträtin Uschi Schwarzl. So können Passanten zumindest an den prominentesten Promenaden der Stadt den gesetzlich vorgeschriebenen Meter Abstand halten.
Auswirkungen auf den Verkehr.
In Großstädten wie New York, Mailand oder Wien arbeiten Stadtregierungen bereits an Verkehrskonzepten, die über die Gewährleistung von Sicherheitsabständen hinausgehen: Begegnungszonen, sogenannte „Pop-up-Radwege“, 30er-Zonen und, wie in Innsbruck, verbreiterte Fußgängerwege sollen Stadtteile und ihre Geschäfte beleben und die Menschen in einer Ära nach Corona aus den Autos auf die Straße bringen – höchste Zeit, denn: „Das Auto erlebt gerade ein Revival“, weiß Stephan Tischler vom Institut für Infrastruktur an der Uni Innsbruck. Vor allem sei es aber „die Kurzstrecke, die wiederauflebt“. Durch die Verlagerung des Individualverkehrs in den Nahbereich erlebt auch das Fahrrad einen Boom – und zwar einen noch größeren als der Pkw.
„Die meisten Unfälle passieren aufgrund von überhöhter Geschwindigkeit.“
Stephan Tischler, Institut für Infrastruktur, Uni Innsbruck
Die großen Verlierer im Verkehrsbereich sind nicht nur in Innsbruck die öffentlichen Verkehrsmittel. Die Innsbrucker Verkehrsbetriebe verzeichneten zu Beginn der Coronakrise einen Einbruch von 80 bis 85 Prozent der Fahrgäste. Mittlerweile liegt die Auslastung wieder bei 30 bis 40 Prozent. IVB-Chef Martin Baltes will durch Maßnahmen wie dem automatischen Öffnen aller Türen an Haltestellen und sichtbarer Desinfektion neues „Vertrauen schaffen“. Außerdem werden ab Ende Mai in Bussen und Trams keine Tickets mehr verkauft. Das sei jedoch keine große Veränderung: „Der Ticketverkauf beim Fahrer direkt im Bus ist in den letzten Jahren um zwei Drittel zurückgegangen“.
Alte Streitereien.
In Innsbruck offenbart die Coronakrise altbekannte Probleme und eine teilweise widersprüchliche Verkehrspolitik: Während Uschi Schwarzl es sich zum Ziel nimmt, den „Individualverkehr nach Innsbruck um 20 Prozent zu reduzieren“ und in St. Nikolaus 18 Parkplätze einer Fußgängerzone weichen müssen, beschließt der „Ausschuss für Arbeit, Wirtschaft und Tourismus“ auf Initiative von Vize-Bürgermeister Hannes Anzengruber (ÖVP) die Eröffnung eines Autokinos am Südring. Für Michael Kaufmann, Referatsleiter des Verkehrs- und Umweltmanagements der Stadt Innsbruck, ist ein Autokino gar „die einzige Maßnahme, um Kino erlebbar zu machen“. Ein Open-Air-Kino ohne Auto, aber mit Abstand ist mit Stand Ende Mai keine Option. Die Innsbrucker Grünen rügen den Koalitionspartner mit einem Facebook-Posting. Dagegen wehren könne man sich trotzdem nicht, „es gibt in Ausschüssen einfach Mehrheiten“, so die Vize-Bürgermeisterin. Ende Mai fordert ÖVP-Stadtparteigeschäftsführer Peter Pock zusammen mit Teilen der Opposition (FI, FPÖ, Gerechtes Innsbruck, SPÖ) dazu auf, die „unnötige Gehsteigverbreiterung“ in St. Nikolaus wieder abzubauen – „ersatzlos und dauerhaft“, wie es in einer Presseaussendung dazu heißt. Kurze Zeit später wollen „Für Innsbruck“ und die SPÖ dies doch nicht so gemeint haben. Darauf meldet sich WK-Chef Christoph Walser zu Wort und bezeichnet in einer Aussendung die Innsbrucker Stadtregierung als „quasi tot“. Der Grüne Wirtschaftssprecher Thomas Schultze kontert in der TT mit einem Sager über Wartezeiten bei Hilfsfonds-Anträgen.
„Der Ticketverkauf beim Fahrer direkt im Bus ist in den letzten Jahren um zwei Drittel zurückgegangen.“
Martin Baltes, IVB-Geschäftsführer
Fast vergessen ist der Beschluss des Grünen Bürgermeisters Willi, mit dem man in den ersten Corona-Wochen Teile des Innradweges einfach sperrte und Fahrradfahrer in den Mischverkehr am Innrain und in der Innstraße drängte. „In Innsbruck hat man in den vergangenen Jahrzehnten immer Kompromisslösungen gesucht“, resümiert Stephan Tischler. Für ihn brauche es „organisatorisch radikalere Lösungen“, um etwa den Radverkehr zu fördern und sicherer zu machen.
Chancen für Innsbrucks Infrastruktur.
Neben ausreichend Platz für Fußgänger und Radfahrer empfiehlt der Verkehrsexperte etwa gestaffelte Schulzeiten, um die Öffis zu entlasten und die Deaktivierung von Druckknopfampeln aufgrund von Wartezeiten und mangelnder Hygiene. Beide Vorschläge waren schon vor Corona angedacht. „Die meisten Unfälle passieren aufgrund von erhöhter Geschwindigkeit“, weiß Tischler. Allein die Zahl der gemeldeten Fahrradunfälle mit Personenschaden lag im Jahr 2019 bei 335. In Zeiten, wo man potentiell jedes Krankenbett brauchen kann, ist es wichtig, das Geschwindigkeitsniveau der verschiedenen Verkehrsteilnehmer anzugleichen. „Die wirksamste Maßnahme ist es, die Geschwindigkeit auf 30 Stundenkilometer im Ort, 80 außerhalb und 100 auf Autobahnen zu reduzieren“, empfiehlt der Fachmann.
Mit Tempo 30 in der Innenstadt renne man auch bei der Mobilitätsstadträtin „offene Türen ein“. Dass Innsbruck ein Platzproblem hat, ist allen Beteiligten der Diskussion klar. Trotzdem sollten für Tischler Gehsteigbreiten ebenso selbstverständlich mitgedacht werden wie Fahrbahnbreiten. Damit Begegnungszonen wirklich wahrgenommen und genützt würden, brauche es, wie es der Umbau der Wiener Mariahilferstraße gezeigt hat, „bauliche Maßnahmen“.
Begegnungszone geplant.
Für die Planung einer Begegnungszone gibt es bereits eine von Schwarzl beauftragte Arbeitsgruppe, die einen größeren Bereich in der Innenstadt dahingehend untersucht. Rund um den Boznerplatz und bis in die Maria-Theresien-Straße soll diese Zone reichen, heißt es aus dem Referat für Verkehrs- und Umweltmanagement der Stadt. In der Zone dürften sich alle Verkehrsteilnehmer nur mit maximal 20 Stundenkilometern gleichberechtigt fortbewegen. Ob die Zone sicher kommt, steht noch nicht fest.
Neben Corona-bedingten Änderungen und Chancen für den Innsbrucker Verkehr steht bei den IVB in näherer Zukunft die verordnete Dekarbonisierung des öffentlichen Verkehrs an, also der schrittweise Verzicht auf fossile Brennstoffe. Über eine Förderung des Stadtrads, das mittlerweile wieder in Betrieb ist, wird zurzeit gesprochen.
Bei allen getätigten Maßnahmen für den Straßenverkehr fordert Verkehrsexperte Stephan Tischler die Politik auf, „gewisse Prioritäten zu setzen“. Man müsse sich letztlich entscheiden, ob man nun den Rad-, Auto- oder den öffentlichen Verkehr priorisiere. „Wenn ich alles gleichzeitig zulasse, wird jeder damit unzufrieden sein.“
„Es gibt in Ausschüssen einfach Mehrheiten.“
Ursula Schwarzl, Vizebürgermeisterin, Mobilitätstadträtin
Begegnungszone – was nun?
- Falls die Begegnungszone in der Innenstadt kommt, gilt dort die Gleichberechtigung aller Verkehrsteilnehmer. Alle Barrieren (Gehsteigkanten, etc.) werden beseitigt und es gilt Tempo 20.
- Als bereits „baulich geeignet“ sieht Schwarzls Arbeitsgruppe das Stück der Meranerstraße zwischen Boznerplatz und Maria-Theresien-Straße.
Auf zwei Rädern
- 34 Kilometer echte Radwege hat Innsbruck.
- Mit Mehrzweckstreifen, Radstreifen und Mischwege kommt man auf insgesamt 84 Kilometer.