itzt man André Stern gegenüber, ertappt man sich dabei, gebannt an seinen Lippen zu hängen. Der Franzose ist ein großartiger Rhetoriker, diesmal in Deutsch. Eine der fünf Sprachen, die er spricht. Mit 20 Jahren hat der 44-Jährige damit begonnen, sich diese anzueignen.
//„Von wegen: Fremdsprachen könne man als Erwachsener nur mehr schwer erlernen“, meint er dazu, während seine Augenbrauen bedeutungsvoll Richtung Haaransatz wandern.
Es ist nicht die einzige unserer Bildungs-Wahrheiten, die er infrage stellt. Als er begonnen hat, sich mit Deutsch auseinanderzusetzen, konnte er dies tun, solange er Lust dazu hatte: „Niemand hat mir nach 50 Minuten gesagt, jetzt sei Schluss mit Deutsch, jetzt sei Mathe dran.“ Auf diese Art durfte er auch alles andere erlernen.
Noch vor seiner Geburt hatten seine Eltern sich dafür entschieden, ihre Kinder nicht in die Schule zu schicken. In Frankreich ist dies absolut legal, da dort weder Unterrichts- noch Schulpflicht herrscht. Mit drei Jahren konnte André lesen. Zwei Buchstaben hatten es ihm angetan. Er folgte ihnen neugierig und frei, hat andere entdeckt, sie auf seine Reise mitgenommen und sich so Lesen und Schreiben beigebracht. Nicht mit dem klassischen ABC, nicht über Diktate oder Hausübungen.
„Ich durfte in die Welt hinaus. Neugierig sein und mich für alles entscheiden, wofür ich mich begeisterte“, erzählt er. Diesen Enthusiasmus hat er sich bewahrt und er nutzt ihn, wie er sagt, um seine Geschichte zu erzählen. Und im Idealfall Denkanstöße zu geben. „Aber ich bin kein Systemkritiker, ich will das System nicht abschaffen, auch die Schule nicht“, stellt er klar. Die Schulpflicht allerdings, wie sie zum Beispiel in Deutschland besteht, bezeichnet er als Diskriminierung. Ebenso wie Noten.
Die Fragen.
André Stern musste sich nie mit anderen messen, seine Leistung war nie von anderen abhängig. Er durfte spielen – und Spielen, davon ist er überzeugt, sei die beste Lernmethode überhaupt. Erfolg hat er heute. André Stern hat drei Bücher geschrieben, ist Chefredakteur einer Musikzeitschrift, Musiker und baut Instrumente. Beworben hat er sich für diese Jobs nicht, sie wurden im angeboten. „Aufgrund meiner Kompetenz, nicht aufgrund von Qualifikation“, betont er und sieht in diesen beiden Begriffen mehr als ihre unterschiedliche Erklärung im Wörterbuch.
André Stern ist vielgebuchter Redner, wie zuletzt beim Wirtschaftsdialog der Tiroler Sparkasse. Er ist einer der Protagonisten des Dokumentarfilms „Alphabet – Angst oder Liebe?“, welcher sich mit unserem gewachsenen Schul- und Bildungssystem beschäftigt, Schwächen findet und nach Alternativen sucht. Immer öfter sind daher André Sterns Ansichten in Bildungsfragen gewünscht.
Fragen hat er in diesem Zusammenhang auch selbst einige: „Was tun Kinder, wenn man sie einfach in Ruhe lässt?“ „Wann haben wir verlernt, unsere Kinder zu beobachten und ihnen zu vertrauen?“
Die Antworten.
André Stern liefert zumindest seine eigenen Antworten. Ohne Anspruch auf Wahrheit oder Vollständigkeit, wie er selbst betont. Was also tun Kinder, wenn man nicht versucht, ihnen eine Richtung vorzugeben? „Sie spielen, lassen ihrer Kreativität freien Lauf und begeistern sich für die Welt um sie herum“, sagt Stern. Lernen könnten wir von ihnen vieles, ist der Franzose überzeugt: „Kinder besitzen kein Diskriminierungspotenzial, sie sind weltoffen und urteilen nicht. Sie kennen kein Denken in Schubladen, sie kommen nicht mit dem Willen zur Leistung auf die Welt. Wollen sich nicht vergleichen, nicht messen.“
„Die Schulpflicht und das Notensystem sind diskriminierend.“
Mehr noch: „Will ein Kind spielen und wir zwingen es zu lernen, werden im Gehirn dieselben Stellen aktiviert, die auch für Schmerzen zuständig sind“, erklärt er und beruft sich dabei auf Ergebnisse der Hirnforschung. Was also tun, was ändern, wo ansetzen? André Stern hat dazu eine Idee, die vor allem an unseren Herzen nicht vorbei kommt, und dennoch vielleicht zu einfach klingt: „Vertraut euren Kindern!“
Die Hausaufgabe.
André Stern ist selbst Vater eines vierjährigen Sohnes. Antonin wird nicht in die Schule gehen, außer er will es unbedingt. Wie sein Vater hat aber auch er wenige Freunde, die eine solche Bildungsinstitution besuchen. „Wer darf aber auch überhaupt behaupten, dass Kinder mit Gleichaltrigen zusammen sein wollen?“, wirft er an dieser Stelle ein. Stern begegnet Fragen oft mit Gegenfragen. Gezielt, weil er so zum Nachdenken anregen will.
Aber auch, weil auch ihm Antworten fehlen. Diese zu geben, würde nicht seinem Anspruch entsprechen, betont er.
//Was können wir aus der Geschichte von André Stern lernen? Von einem, der nie zur Schule musste, aber dennoch um sechs Uhr aufgestanden ist, um Gitarre zu lernen? Der sich frei bewegen durfte und trotzdem naturgemäß nur entdecken konnte, was ihm die – in seinem Fall – reichhaltige Umgebung bieten konnte. Möglichkeiten, behauptet Stern. „Viele Eltern kommen auf mich zu und erzählen, sie hätten eines meiner Bücher gelesen und ihr Kind dann in die Regelschule geschickt“, sagt Stern erfreut. „Damit ist meine Aufgabe erfüllt. Weil sie sich bewusst entschieden haben, obwohl sie andere Ideen kennen gelernt haben.“ Er stelle uns seine Ideen nur zur Verfügung. Das biete er jedem Einzelnen, mehr bekomme auch das Bildungssystem nicht von ihm. André Stern will einfach seine Geschichte erzählen, das begeistert ihn gerade. So hat er das auch gelernt.
„Niemand hat mit nach 50 Minuten gesagt, jetzt sei Schluss mit Deutsch, jetzt sei Mathe dran.“
Einmaleins der Schulpflicht
In Österreich gibt es laut Gesetz eine Unterrichtspflicht. Dieser muss jedoch nicht in einem Schulgebäude nachgekommen werden. Das heißt, man darf Kinder auch zu Hause unterrichten. Am Ende jedes Schuljahrs müssen aber Prüfungen vor einer staatlichen Kommission absolviert werden, welche zu prüfen hat, ob der Lehrplan gemäß des Alters auch eingehalten wurde. In Deutschland hingegen besteht Schulpflicht. Dort müssen Kinder also eine staatlich anerkannte Schule besuchen. Das französische Gesetz kennt weder eine Unterrichts- noch eine Schulpflicht.