etzt gibt es kein Zurück. Unzählige Menschen strömen durch Innsbrucks Altstadt. Samstagnachmittag bei strahlendem Sonnenschein. Nervosität steigt in mir auf. Normalerweise nehme ich immer den Laubengang, um schneller voranzukommen. Heute nicht – denn heute ist mein erstes Mal. Inmitten einer chinesischen Reisegruppe schwimme ich mit dem Strom die Herzog-Friedrich-Straße entlang. Mein anvisiertes Ziel ist ein Schirm, der über die Menschenmenge ragt. Und dabei ist nicht jener blaue Knirps des Reiseführers gemeint – nein, sondern der Stand mit dem weißen Sonnenschirm.
//Nach wenigen Metern begrüßen mich bereits bunte Aquarelle. Daneben prangen Porträts und Karikaturen an zwei Wänden. Ein Mann Mitte 50 sitzt auf einem Stuhl und spitzt gerade mit einem Messerchen seine Stifte. „Ich würde mich gerne zeichnen lassen. Geht das?“, frage ich, da kein weiterer Stuhl zu sehen ist. „Frontal- oder Profilansicht?“, fragt mein Gegenüber lächelnd. Total frontal – ganz oder gar nicht. Der Künstler trägt Schnauzer, Brille und ein schwarzes, rundes Barett aus Wollstrick. „Bitte hier Platz nehmen“, fordert er mich auf und deutet auf einen Stuhl, der etwas versteckt hinter den zwei etwas angewinkelten Wänden steht. Diese schaffen trotz des Trubels ein ruhiges Eck. Einen Hauch von Intimität. Das ist gut für das erste Mal. Rückblickend sei gesagt: Es war eine Pseudo-Intimität.
Selfie-Manie.
Sitzend schweift mein Blick über das Goldene Dachl. Touristen knipsen sich und Innsbrucks Wahrzeichen Nummer eins. Viele Selfie-Sticks schweben in der Luft. Immer wieder stoppen Leute plötzlich und reißen ihr Smartphone oder Tablet hoch. Nicht selten können schwerwiegende Kollisionen dabei nur knapp verhindert werden.
Insgeheim überlege ich, wann mich jemals jemand so lange angesehen hat.
Auf den ersten Schnappschuss folgen vielfach mehrere Posen und ein lustiges Mienenspiel vor den Kameralinsen: Zuerst klassisches Lachen, aber weil das ja schon old school ist, noch eins mit Duckface und Faux-Surprised. Eine gewisse Ironie wohnt dieser gesamten Situation schon inne, in Zeiten von #nofilter sitze ich hier und lasse mich porträtieren – extrem old school. Gute alte Schule eben.
//„Sie sind aus Innsbruck, oder?“ Nach wenigen Sekunden – enttarnt. Das gibt es wahrscheinlich auch nicht allzu oft. Vor allem nicht an einem so belebten Wochenendtag. Nicht mal in Paris oder London habe ich mich zeichnen lassen, aber jetzt, heute, hier. Oft hatte ich mich gefragt, wie es sich wohl anfühlte. Jetzt weiß ich es: speziell. Sehr speziell. Vor allem zu Hause und als Nicht-Touristin. Von Angesicht zu Angesicht sitzen wir uns gegenüber. Eineinhalb Meter trennen uns. „Einen Arm auf der Lehne abstützen und bequem hinsetzen, denn die Position muss für die nächsten 30 Minuten gehalten werden.“ Aus einem kleinen Radio tönt Musik. Angenehm, das entspannt.
Schau mir in die Augen, Kleines.
„Und mir immer in die Augen schauen.“ Sofort denke ich an Casablanca und das einschlägige Filmzitat. Aber auch egal, immer in die Augen schauen – check. Ist sicher wichtig für ein gutes Resultat. Schön lächeln und los geht’s. Meinen steten Blick auf den Künstler gerichtet, beobachte ich im Hintergrund erneut den regen Betrieb vor Innsbrucks Wahrzeichen. An dessen Fuße die Silberne Lady auf ihrem Podest steht. Wenn sie es schafft, stundenlang regungslos zu stehen, werde ich es wohl schaffen, 30 Minuten ruhig zu sitzen? Hoffentlich. Schon nach einem Radio-Lied beginnen meine Backen komisch zu zittern. Das Lachen schmerzt, es fühlt sich bereits steif und gekünstelt an. Wahrscheinlich hat auch mein Gegenüber das Zucken bemerkt. Noch nie hat mich ein „Mund einfach zumachen“ derart erleichtert.
Bild im Bild.
Leute gehen vorbei. Einige sehen den zeichnenden Maler und lugen vorsichtig ums Eck. Gehen dann weiter. Jedoch erkennt man eindeutig, dass sie am liebsten stehen geblieben wären, eine plötzlich komisch eingeschlagene Halbkurve und mehrmaliges Umblicken verraten hier viel. Andere sehen den Porträtmaler und mich – bleiben stehen und starren. Ganz lange. Wieder andere zählen wohl eher zum motorischen Typ Mensch. Starren alleine genügt nicht, sie wandern fast nervös hinter dem Zeichenkünstler auf und ab. Machen Fotos mit Handy und Kamera. Auch das ist Kunst: ein Bild im Bild sozusagen. Allen gemein ist aber der prüfende Blick auf mich und dann auf das entstehende Porträt. Prüfend scannt mich auch der Blick des Malers. So müssen sich Models bei Castings fühlen. Interessiert folge ich seinen zuckenden Pupillen. Welcher Gesichtspart gerade an der Reihe ist, lässt sich nur vermuten. Die Neugierde wächst und wächst. Ein Pärchen steht hinter dem Zeichner. „Guck mal, Hans-Werner. Schön. Wirklich schön“, sagt die blonde Frau schließlich.
//Insgeheim überlege ich, wann mich jemals jemand so lange angesehen hat. Eigentlich noch nie – mein zweites erstes Mal am selben Tag. Wahnsinn. Zugegebenermaßen habe ich mir das wirklich nicht so vorgestellt. Ein freundliches „so, fertig“ reißt mich blitzartig aus meinem tranceartigen Zustand. Wow, ein wirklich gutes Ergebnis. Und das in so kurzer Zeit. 35 Euro und ein Andenken für die Ewigkeit. Das Bild bekommt einen Ehrenplatz an meiner Wohnzimmerwand, aber nicht aus narzisstischen Gründen, sondern als Erinnerung an mein Abenteuer – versehen mit einem Post-it inklusive #nofoto.