Maria-Theresien-Straße
Am Freitagnachmittag ist Innsbrucks berühmteste Straße hektisch. Menschen scheuchen sich kreuz und quer von Geschäft zu Geschäft, eilen konzentriert von einem Ziel zum nächsten. Man hört hunderte Schritte in jeder Sekunde, unzählige zum Teil exotische Sprachen, hört Tassen klirren, Menschen lachen, riecht manchmal den Kaffee, der an einem vorbeigetragen wird, riecht die Blumen im Beet und das Parfum der vorbeieilenden Menschen.
//Manchmal wird man von dem einen oder anderen auch leicht gestreift: Man hört zuerst herannahende Schritte, spürt die Unaufmerksamkeit des Passanten und muss selbst kurz stehen bleiben. „Leider sieht man nichts, denn man blind ist “, sagt Vladimir Vasic, als er über die Maria-Theresien-Straße redet – wenn er nämlich über sich spricht, ist er zwar immer ganz offen, sagt aber so gut wie nie „ich“.
//„Wer mit der Hektik nicht gut zurechtkommt, sollte die Straße lieber am Abend besuchen“, denn hier lasse es sich dann nett schlendern, und in der Bar am nördlichen Ende der Straße wird manchmal Klavier gespielt. „Erst dann“, sagt er, „wenn nicht mehr so viele Menschen da sind, hört man die ganze Breite und Pracht der Straße.“
Goldenes Dachl
Überquert man aber den Marktgraben und kommt in die Herzog-Friedrich-Straße, „klingt alles viel enger“. Vasic erklärt, wie er das meint: „Hörst du das?“, meint er und klopft mit seinem Stock sanft auf das Pflaster, „der Ton ist hoch und ein wenig stumpf.“
//Außerdem sei es hier schattig. Es weht eine kühle Brise zwischen den eng beieinander stehenden Mauern, die die Leute auch dazu bringen, etwas geordneter zu gehen. „Um zum Goldenen Dachl zu kommen, kann man die Regenrinne am Boden als Leitsystem nutzen“, erklärt Vasic. Das Goldene Dachl, das Wahrzeichen der Stadt, in der er lebt, habe er nie gesehen, einmal aber ein 3D-Modell abgetastet. „Wie das Gold auf den Schindeln aber aussieht, weiß ich nicht“, sagt Vasic.
Innbrücke
Sehen kann Vladimir Vasic nicht, er kann aber zwischen hell und dunkel unterscheiden und noch viel mehr: Er kann den Regen riechen, manchmal sogar spüren, wenn er sich anbahnt. „Sehende nehmen oft nur mit dem Auge war und bekommen den Rest erst gar nicht mit“, meint Vladimir. Er hingegen bekomme in einem gewissen Sinne beides mit.
//Freunde beschrieben ihm schon oft den Ausblick von der Innbrücke Richtung Norden. Dank der Schilderung kann er sich „die spitzen Gipfel, die sich, in eine Schneedecke gewickelt, unter dem blitzblauen Himmel nebeneinanderreihen und die grünen Wälder wie schöne Kleider präsentieren“, gut vorstellen.
//„Das Bild, das mir da beschrieben wird, ist kitschig, doch so ist hier auch mein Gefühl“, erklärt Vasic. Wenn er an der Innbrücke steht, spüre er Tiefe, als könnte er ganz weit nach vorne greifen, und
nicht selten bekommt er Sehnsucht nach dem Berg.
Promenade
„Der Inn ist heute laut, hoch und sicher auch trüb“, sagt Vasic, als er an der Promenade entlangspaziert. Der Geruch von frischgemähtem Gras, das Gefühl, kein konkretes Ziel und genügend Zeit für sich selbst zu haben – das entspannt Vladimir am meisten.
Domplatz
Sein Lieblingsplatz in der Altstadt ist aber der Domplatz. „Ich will Erlebtes immer verdauen“, meint Vasic. Der Platz vor dem Innsbrucker Dom hat einen kleinen Park mit Bänken, die um einen leicht vor sich hinplätschernden Brunnen stehen, und einer Baumkrone, die Schatten spendet. „Hier finde ich es sehr schön“, sagt Vladimir Vasic.
Über Vladimir ...
Der 48-jährige Vladimir Vasic wurde in Schwaz geboren, besuchte ein Internat in Graz und wurde in Wien zum Telefonisten ausgebildet. Heute übt er diesen Beruf an der Uni Innsbruck aus. Außerdem ist Vladimir Sportler mit Leib und Seele: Seine größte Leidenschaft gehört dem Torball – einer blindengerechten Ballsportart. Sein Tiroler Team konnte nicht nur als einziges weltweit dreimal hintereinander den Weltcup sichern, sondern 2015 auch den Weltmeistertitel für sich entscheiden. Seit 1992 lebt er in Innsbruck, mittlerweile mit seiner Freundin und ihrem Sohn.